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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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er nicht. Wahrscheinlich würde er ihn nie bekom-
    men. Es war ihm nicht einmal gelungen, sich Zugang zu den Ab-
    wasserkanälen zu verschaffen. Den Mantelkragen hochgeschla-
    gen und über die steinerne Brüstung der Brücke gebeugt, wurde
    sich Rose der ganzen Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen be-
    wusst. Selbst wenn er jemanden finden würde, der ihn in die un-
    terirdischen Kanäle führte, was dann? Ein Jammer, dass May nur
    eine vage Ahnung hatte, wonach Rose dort im Untergrund su-
    chen sollte.
    Mays Karte steckte noch immer in seiner Hosentasche. Er be-
    tastete sie. Mehrmals gefaltet, war sie kaum größer als eine Brief-
    marke, wenngleich mit spitzen Ecken. Auf der Brücke herrschte
    kaum Verkehr. Die Landstreicher benutzten die Brücke in South-
    wark, wo man keinen Zoll bezahlen musste. Selbst an einem so
    bitterkalten Abend wie diesem kauerten sie sich dort in Mauer-
    nischen, dicht zusammengedrängt, um einander zu wärmen, bis
    die Polizei sie verscheuchte. Hier jedoch begegnete ihm nur ein
    Einspänner, dessen Kutscher sich in eine Decke eingewickelt
    hatte, so dass unter dem Hut bloß seine Nasenspitze zu sehen
    war. Seine Peitsche
    allte
    kn
    wie e
    br chendes Eis, als er sein Pferd
    antrieb.
    Seufzend sah Rose den Fluss hinunter. Es war Ebbe, und
    die feuchten, klebrig glänzenden Dreckfladen verströmten den
    typisch winterlichen Gestank nach Salz und faulen Rüben. Die

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    Kälte kroch Rose unter die Ärmel und den Kragen und drang
    durch den durchgescheuerten Mantelstoff. Hastig zog er seinen
    Schal fester um den Hals, bevor er die Hände schnell wieder
    in den Hosentaschen vergrub. Das zusammengefaltete Papier
    schabte an seinem Daumenballen. Er drehte es in seiner Mantel-
    tasche, während er sich über die Brüstung beugte. Ein leichter
    Wind war aufgekommen, der über den Fluss strich und kleine,
    einander überlappende Wellen aufwirbelte. Sie glitzerten, als der
    Mond hinter einer Wolkenbank hervorkam und einen silbrigen
    Schein aufs Wasser warf. Die Themse kam ihm vor wie ein riesi-
    ges, schwarzes Meeresungeheuer. Es schlängelte sich in seinem
    Graben durch die Stadt auf seinen Bau unter dem offenen Meer
    zu. Eine groteske Bestie, die den Abfall dieser größten Stadt der
    Welt verschlang und nur halb verdaute. Unablässig verschlang
    ihr weit aufgerissener Rachen die verrottende Vegetation, die
    Exkremente und die Toten dieser Stadt. Ihr Appetit war gewal-
    tig, sie war nicht wählerisch und reckte ihre Tentakel sogar in die
    Eingeweide der Stadt, um an deren widerlichen Ausscheidungen
    zu lecken. Einen Fetzen Papier könnte dieses Ungeheuer mühe-
    los verdauen. Rose musste nur die Hand öffnen und den Zettel
    auf seinen gewaltigen Rücken fallen lassen. Der Fluss musste nur
    einmal mit seinem fleischigen Rückgrat zucken, und der Zettel
    wäre verschwunden, fortgespült unter die London Bridge, den
    Pool entlang, vorbei an dem verrostenden Gefängnisschiff in
    Woolwich. Die Zellen dort hatten keine Fenster. Der Papierfet-
    zen würde unbemerkt ins Meer geschwemmt, seine Fasern wür-
    den sich im Wasser auflösen. Oder vielleicht würde das Schicksal
    mit seiner Vorliebe für billige Groschenromane ihn unter dem
    modernden Bauch des Schiffes festhalten – ein Brief, der un-
    geöffnet an den Absender zurückging, Empfänger unbekannt.
    Vielleicht würde der Zettel auch dann noch an dem schrundi-
    gen, dunklen Metall haften, wenn May nach Newgate gebracht

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    und gehängt wurde. Sagen Sie ihr, ich mache einen Plan für ihren
    Garten.
    Rose erschauderte. Er fror bis auf die Knochen, und an sei-
    ner rechten Schläfe spürte er einen bohrenden Schmerz. Die
    kraftvollen Windungen des Flusses verursachten ihm Übelkeit.
    Die Hände noch tiefer in den Taschen vergraben, ging er stamp-
    fend auf demselben Weg zurück, den er gekommen war. Der
    Zettel schnitt ihm in den Handteller. Er drückte zu und fand
    Trost in diesem Schmerz. Jetzt ging er zügiger und ohne nach-
    zudenken. Mit beträchtlicher Ungeduld steuerte er auf einen
    Menschenauflauf zu, der die schmale Gasse kurz vor dem Inner
    Temple versperrte. Die Gaslampe über den Köpfen war so weit
    aufgedreht, dass sie ein dröhnendes Geräusch von sich gab; in
    ihrem grellen Licht trugen die Gesichter dunkle Schatten. Leise
    vor sich hin murmelnd, wollte sich Rose an den Leuten vorbei-
    drücken, als ein untersetzter Mann seine Aufmerksamkeit auf
    sich zog. Er trug einen Lederhut mit Nackenschutz und hohe Le-
    derstiefel und

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