Der Vermesser
Ist doch egal, ob es um Ratten geht oder um Geld.
Unter uns einfachen Leuten.«
Brassey lächelte unsicher.
»Hör zu, Brassey.« Toms Stimme klang jetzt eiskalt. »Ich
komm heut Abend nicht. Wenn der Captain will, was ich habe,
soll er um Mitternacht bei der Adams Lane sein, da, wo sie an-
fängt. Und ich würd ihm raten, den Hund mitzubringen. Ka-
piert?«
Brassey nickte.
»Wenn er jemanden dabeihat, ist die Sache gestorben. Du
kannst dem Captain ausrichten, falls er kein Interesse hat, über-
geb ich alles einem gewissen Mr. Rose. Sind ein Herz und eine
Seele, dieser Mr. Rose und ich. Und Mr. Rose würde sich den
Fuß dafür ausreißen, dass er kriegt, was ich ha e
b . Falls der Cap-
tain nicht aufkreuzt.«
»Mr. Rose«, wiederholte Brassey im Flüsterton.
»Richte ihm das aus, Brassey. Und zwar genau so. Wenn du
ihm das ausrichtest, wer weiß? Vielleicht verzichte ich dann so-
gar darauf, dir heimzuzahlen, dass du mich beschissen hast, du
dreckiges Stück Kloakenscheiße.«
Tom trat von der Planke herunter. »Aber an deiner Stelle würd
ich mir nicht einbilden, schon aus dem Schneider zu sein«, fügte
er bedächtig hinzu. »Heutzutage kann man sich ja auf nichts
mehr verlassen. Selbst wenn man Brief und Siegel hat.«
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Tom bückte sich, schleuderte die Planke in den Dreck und
ließ Brassey auf der Türschwelle stehen, vor ihm ein Meer aus
Schlamm und Matsch.
»Noch was. Sollte dir einfallen, jemand mit dem Captain mit-
zuschicken oder mich sonst wie austricksen zu wollen, hacke ich
dir die Finger einzeln ab und verfüttere sie an deine Ratten.« Ein
Grinsen, breit wie das einer Bulldogge, überzog Toms Gesicht
und entblößte seine schwarzen Zahnstummel. »Und der Spaß
wird dich schön was kosten. Ein Penny pro Paar, drunter mach
ich̕s nicht.«
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XXXV
W illiam lag rücklings im schmutzigen Stroh, die gefesselten
Füße schmerzhaft unter dem Körper verdreht. Es war bitterkalt.
Der Hunger krampfte ihm den Magen zusammen und nagte an
seinen Knochen. Wenn er versuchte aufzustehen, wurde ihm
schwindelig. Ohne die angeketteten Fußeisen, die ihn am Boden
festhielten, hätte er das merkwürdige Gefühl gehabt, nach oben
zu treiben, sich in der verpesteten Luft hier unter Wasser im
Bauch des Schiffes in Rauch aufzulösen. Seitdem der Anwalt bei
ihm gewesen war, hatte William sich mit der ganzen Kraft seiner
Fantasie vorgestellt, welche Erkundungen der Mann einholen,
welche Nachforschungen über Williams Charakter er anstellen
und welche Beweise er finden würde, um ihm, William, Gerech-
tigkeit widerfahren zu lassen. Wie ein Verhungernder hatte er
sich gierig an diese Hoffnung geklammert, ohne zu wissen, dass
Hoffnung wie verdorbenes Fleisch war und von Würmern wim-
melte, die sich auch an ihm gütlich tun würden. Doch der An-
walt war nicht wiedergekommen. Jetzt fühlte sich William leer,
sein Körper, ja sein ganzes Gehirn waren wie ausgepumpt. In
weiter, unerreichbarer Ferne zogen Gedanken durch seinen
Kopf gleich den Wolken weit oben am Horizont, die flüchtige
Schatten warfen, bevor sie verschwanden. Selbst seine Träume
waren fadenscheinige, instabile Gebilde, leicht wie Spinnen-
netze, die dem beharrlichen Schlagen der Flutwellen gegen den
Schiffsrumpf und dem Kreischen der Ketten, wenn der Eisen-
käfig hinauf- oder heruntergelassen wurde, keinen Widerstand
entgegensetzten. Wenn in den unheilvollen Stunden vor dem
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Morgengrauen auf dem Schiff eine gespenstische Stille eintrat,
führte William leise Selbstgespräche und fand Trost im vertrau-
ten Klang der eigenen Stimme und der sicheren Gewissheit der
Worte. Seine Zunge, seinen Atem, die Fähigkeit, Laute zu arti-
kulieren – das konnte man ihm nicht rauben. Auch wenn man
ihn gefesselt hatte wie ein Tier und ihn in seinem eigenen Dreck
liegen ließ, redete er doch wie ein Mensch. Er murmelte die Wor-
te in die hohle Hand, reihte sie aneinander wie Perlen, die
Augen geschlossen und seinem warmen Atem nachspürend.
Diese Worte trugen ihn voran in einem gleichförmigen Rhyth-
mus wie die ratternden Räder eines Dampfzugs. Ich lebe. Alles
wird gut werden. Alles wird gut werden. Ich lebe. William May
William May. William May.
Der Anwalt kam nicht wieder. Im grauen Dämmerlicht des
Unterdecks glitt William vom Schlaf ins Erwachen, ohne das
eine vom anderen unterscheiden zu können. Die Zeit huschte
vorüber. Mittags hörte er das Läuten der Glocke zum Zei-
chen, dass
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