Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
Freilich ist man nicht sofort tot. England . . also Eng-

    399
    land hat sogar noch versucht wegzulaufen. Aber hier unten, wer
    hört hier unten schon, wenn einer schreit?«
    »Zum letzten Mal, ich warne Sie ...«
    »Mr. England hat geflennt wie ein Kind ...«
    Der Schrei, der folgte, drang schneidend wie eine Klinge
    durch den Tunnel. Der grüngesichtige Wachtmeister schnappte
    nach Luft, tastete nach dem Knüppel an seinem Gürtel und mar-
    schierte in die Richtung los, aus der das Licht kam. Der Vorar-
    beiter folgte ihm, ebenso Rose. Bei der Biegung des Tunnels hing
    eine Laterne an einem Haken im Mauerwerk. Dahinter eine rie-
    sige, Furcht erregende Höhle mit Pfeilern und Säulen wie der
    unterirdische Palast des leibhaftigen Satans, geschmückt mit
    riesigen Zapfen aus Salpeter, die von der Decke hingen. Der
    schwarz schimmernde Boden wirkte wie eine mächtige Falltür.
    Im hellen Lichtschein lag ein Mann am Boden wie eine vor
    Schreck erstarrte Ratte. In der einen Hand hielt er ein Messer, an
    dessen silberner Klinge ein roter Blutstropfen schimmerte. Die
    andere Hand presste er an seinen Hals. Zwischen den Fingern
    schoss purpurrotes Blut h raus.
    e
    Er war allein. Der Wachtmeister
    starrte ihn mit vor Entsetzen geweiteten Augen an.
    »Was um ... o mein Gott!«
    Der Mann schlug die Augen auf, Panik in seinem blutleeren
    Gesicht. Mit einer letzten verzweifelten Kraftanstrengung rap-
    pelte er sich auf die Füße und stolperte davon. Damit hatte der
    Wachtmeister nicht gerechnet. Er taumelte und wäre beinahe
    gefallen, doch der Vorarbeiter war schneller. Er packte den Mann
    und drehte ihm den Arm auf den Rücken, doch der schlug wie
    wild m
    u
    sich, und das Blut aus seiner Halswunde spritzte dem
    Vorarbeiter ins Gesicht.
    »Mr. Hawke«, sagte der Wachtmeister, tiefes Bedauern in der
    Stimme. »Ich muss Sie leider verhaften.«

    400

XXXVII

    D er Tag, an dem eine Hinrichtung stattfand, war stets ein ganz
    besonderer Tag. Obwohl der Delinquent selbst erst um acht Uhr
    morgens zum Galgen geführt wurde, strömten die Menschen
    schon kurz nach Mitternacht herbei, Jungen und Mädchen vor
    allem, aber auch Männer und Frauen jeden Alters, die sich einen
    guten Blick auf das Schauspiel sichern wollten. Der Geruch, der
    in der Luft lag, erinnerte Tom an einen Sommerabend, wenn un-
    zählige Kater herumstreunten. In Scharen kamen sie über Hol-
    born und das höher gelegene Snow Hill, vorbei an St. Sepulchre
    nach Newgate, einander drängend und rempelnd, mit in der
    Dunkelheit umherirrendem Blick. Ihre Sensationsgier war mit
    Händen zu greifen. Die Besitzer der Schnapsbuden rund um
    Newgate ließen ihre Betten kalt; sie hatten ihre Läden geöffnet,
    um sich dieses gute Geschäft nicht entgehen zu lassen. Von Zeit
    zu Zeit strömten Neugierige in Gruppen zum Hinrichtungs-
    platz, um den Zimmerle t
    u en beim Hämmern und Sägen zuzu-
    sehen, ehe sie der Durst wieder in die Schenke trieb.
    Um die gelben Kugeln der Gaslaternen in den umliegenden
    Gassen waberte frühmorgendlicher Nebel und Tabakqualm. Die
    Schaulustigen schlenderten durch die dicht bevölkerten Straßen
    und scharten sich um diejenigen, die sich als Experten in Sachen
    Hinrichtung aufspielten und jedem, der es hören wollte, Aus-
    kunft darüber erteilten, in welche Richtung der Delinquent bli-
    cken, wie der Galgen gehandhabt und wann dem Verbrecher die
    Schlinge um den Hals gelegt würde. Durch Absperrungen ver-
    suchte man die Menge von der Richtstätte fern zu halten, doch

    401
    bereits um fünf Uhr früh wurden die Zuschauer in der ersten
    Reihe an die Schranken gedrückt, und nicht wenige Frauen, die
    in Ohnmacht gefallen waren, mussten mit ihren in Unordnung
    geratenen Kleidern durch die dichte Menge hinausgetragen wer-
    den, damit sie wieder ein wenig Luft bekamen. Auf dem Dach
    vieler Häuser im Umkreis waren wie in einer Galerie ganze
    Stuhlreihen aufgestellt, und während sich die Zuschauer auf
    ihren wackeligen Sitzen zu halten suchten, riefen sie allerlei un-
    flätige Bemerkungen zu der Menge hinunter. Als schließlich die
    graue Morgendämmerung wie Brackwasser die Gassen erfüllte,
    konnte man kaum mehr den Stundenschlag der Glocken hören,
    so schrill und aufgeregt war das Gejohle und Gegröle und der
    Gesang aller möglichen obszönen Verse. Man verstand davon
    zwar kaum ein Wort, aber der Name Hawke tauchte unweiger-
    lich in jedem Refrain auf, auch wenn das Lied selbst nichts mit
    ihm zu tun hatte.
    Inmitten all des Tumults und

Weitere Kostenlose Bücher