Der Vermesser
Freilich ist man nicht sofort tot. England . . also Eng-
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land hat sogar noch versucht wegzulaufen. Aber hier unten, wer
hört hier unten schon, wenn einer schreit?«
»Zum letzten Mal, ich warne Sie ...«
»Mr. England hat geflennt wie ein Kind ...«
Der Schrei, der folgte, drang schneidend wie eine Klinge
durch den Tunnel. Der grüngesichtige Wachtmeister schnappte
nach Luft, tastete nach dem Knüppel an seinem Gürtel und mar-
schierte in die Richtung los, aus der das Licht kam. Der Vorar-
beiter folgte ihm, ebenso Rose. Bei der Biegung des Tunnels hing
eine Laterne an einem Haken im Mauerwerk. Dahinter eine rie-
sige, Furcht erregende Höhle mit Pfeilern und Säulen wie der
unterirdische Palast des leibhaftigen Satans, geschmückt mit
riesigen Zapfen aus Salpeter, die von der Decke hingen. Der
schwarz schimmernde Boden wirkte wie eine mächtige Falltür.
Im hellen Lichtschein lag ein Mann am Boden wie eine vor
Schreck erstarrte Ratte. In der einen Hand hielt er ein Messer, an
dessen silberner Klinge ein roter Blutstropfen schimmerte. Die
andere Hand presste er an seinen Hals. Zwischen den Fingern
schoss purpurrotes Blut h raus.
e
Er war allein. Der Wachtmeister
starrte ihn mit vor Entsetzen geweiteten Augen an.
»Was um ... o mein Gott!«
Der Mann schlug die Augen auf, Panik in seinem blutleeren
Gesicht. Mit einer letzten verzweifelten Kraftanstrengung rap-
pelte er sich auf die Füße und stolperte davon. Damit hatte der
Wachtmeister nicht gerechnet. Er taumelte und wäre beinahe
gefallen, doch der Vorarbeiter war schneller. Er packte den Mann
und drehte ihm den Arm auf den Rücken, doch der schlug wie
wild m
u
sich, und das Blut aus seiner Halswunde spritzte dem
Vorarbeiter ins Gesicht.
»Mr. Hawke«, sagte der Wachtmeister, tiefes Bedauern in der
Stimme. »Ich muss Sie leider verhaften.«
400
XXXVII
D er Tag, an dem eine Hinrichtung stattfand, war stets ein ganz
besonderer Tag. Obwohl der Delinquent selbst erst um acht Uhr
morgens zum Galgen geführt wurde, strömten die Menschen
schon kurz nach Mitternacht herbei, Jungen und Mädchen vor
allem, aber auch Männer und Frauen jeden Alters, die sich einen
guten Blick auf das Schauspiel sichern wollten. Der Geruch, der
in der Luft lag, erinnerte Tom an einen Sommerabend, wenn un-
zählige Kater herumstreunten. In Scharen kamen sie über Hol-
born und das höher gelegene Snow Hill, vorbei an St. Sepulchre
nach Newgate, einander drängend und rempelnd, mit in der
Dunkelheit umherirrendem Blick. Ihre Sensationsgier war mit
Händen zu greifen. Die Besitzer der Schnapsbuden rund um
Newgate ließen ihre Betten kalt; sie hatten ihre Läden geöffnet,
um sich dieses gute Geschäft nicht entgehen zu lassen. Von Zeit
zu Zeit strömten Neugierige in Gruppen zum Hinrichtungs-
platz, um den Zimmerle t
u en beim Hämmern und Sägen zuzu-
sehen, ehe sie der Durst wieder in die Schenke trieb.
Um die gelben Kugeln der Gaslaternen in den umliegenden
Gassen waberte frühmorgendlicher Nebel und Tabakqualm. Die
Schaulustigen schlenderten durch die dicht bevölkerten Straßen
und scharten sich um diejenigen, die sich als Experten in Sachen
Hinrichtung aufspielten und jedem, der es hören wollte, Aus-
kunft darüber erteilten, in welche Richtung der Delinquent bli-
cken, wie der Galgen gehandhabt und wann dem Verbrecher die
Schlinge um den Hals gelegt würde. Durch Absperrungen ver-
suchte man die Menge von der Richtstätte fern zu halten, doch
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bereits um fünf Uhr früh wurden die Zuschauer in der ersten
Reihe an die Schranken gedrückt, und nicht wenige Frauen, die
in Ohnmacht gefallen waren, mussten mit ihren in Unordnung
geratenen Kleidern durch die dichte Menge hinausgetragen wer-
den, damit sie wieder ein wenig Luft bekamen. Auf dem Dach
vieler Häuser im Umkreis waren wie in einer Galerie ganze
Stuhlreihen aufgestellt, und während sich die Zuschauer auf
ihren wackeligen Sitzen zu halten suchten, riefen sie allerlei un-
flätige Bemerkungen zu der Menge hinunter. Als schließlich die
graue Morgendämmerung wie Brackwasser die Gassen erfüllte,
konnte man kaum mehr den Stundenschlag der Glocken hören,
so schrill und aufgeregt war das Gejohle und Gegröle und der
Gesang aller möglichen obszönen Verse. Man verstand davon
zwar kaum ein Wort, aber der Name Hawke tauchte unweiger-
lich in jedem Refrain auf, auch wenn das Lied selbst nichts mit
ihm zu tun hatte.
Inmitten all des Tumults und
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