Der Vermesser
Augenblick war die Menge stumm, dann ertönte ein Ju-
belschrei, so laut, dass selbst die Backsteine des Newgate-Ge-
fängnisses in ihrem kalten Mörtelbett zu erzittern schienen.
Tom blieb stumm. Aber er drückte Ladys Schnauze an sein Ge-
sicht und sog ihren warmen Filzgeruch ein. Er hatte noch nicht
gefrühstückt, doch plötzlich fühlte sich sein Magen, der ihn seit
über einer Stunde gequält hatte, nicht mehr leer an. Tom ver-
spürte Wärme und Zufriedenheit, als hätte er einen ganzen Laib
Brot gegessen, der frisch aus dem Ofen kam. Wie viele Notlei-
dende wären froh zu wissen, dass der Geruch eines Hundes einen
hungrigen Magen füllen konnte, dachte er nüchtern. Zum Glück
war Joe nicht hier und sah sein Gesicht, das nach all diesen Jah-
ren sanft war wie das eines kleinen Mädchens. Joe hätte sich
schier ausgeschüttet vor Lachen.
Der Henker machte jetzt seine Späßchen mit dem Leichnam
und tat, als wollte er ihm die Hand schütteln. Die Menge johlte.
Lächelnd barg Tom das Gesicht in Ladys Fell. Es war Zeit, mit ihr
nach Hause zu gehen.
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XXXVIII
Z wei Tage später verließen William und Polly London.
Sie hatten ein wenig Geld bei sich. Obwohl sich in der Baube-
hörde einige dagegen aussprachen, hatte Lovick darauf bestan-
den, William eine kleine Entschädigung zuzusprechen, die es
ihm erlauben würde, während einer kurzen Genesungszeit die
unmittelbaren Bedürfnisse seiner Familie zu erfüllen. Das Ange-
bot, seine Tätigkeit in der Baubehörde wieder aufzunehmen, war
damit nicht verbunden. Der Brief, der die Einzelheiten der Ab-
findung regelte, stellte vielmehr klar, dass diese Geste der Groß-
zügigkeit keineswegs eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses
von May bedeutete, sondern dessen Beendigung, sozusagen den
endgültigen und möglichst unkomplizierten Schlussstrich unter
die ganze unerfreuliche Episode. Für Hawke war schnell ein
Nachfolger gefunden, dem ein Team erstklassiger Mitarbeiter
zur Seite gestellt wurde. Trotz des Skandals genoss die Behörde
auch weiterhin die tatkräftige Unterstützung des Parlaments
und der Londoner Bevölkerung. Die Bauarbeiten wurden ohne
Verzögerung fortgesetzt. Und ohne William.
Polly machte aus ihrer Empörung keinen Hehl. Die Falten, die
sich in ihre fahlen Wangen eingegraben hatten, wurden noch
dunkler und tiefer. William habe sich nichts zuschulden kom-
men lassen, versicherte sie jedem, der es hören wollte. War das
nicht sogar gerichtlich festgestellt worden? William war ebenso
ein Opfer von Hawkes Heimtücke geworden wie England, und
genau wie England hatte er keine Strafe, sondern Wiedergut-
machung verdient. Dank der bösartigen Machenschaften dieses
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Ungeheuers war ihr Mann für geistesgestört erklärt und einge-
sperrt worden. Sie, die einst ein Haus und ein Dienstmädchen
gehabt hatte, eine respektable Dame durchaus von Stand, musste
sich jetzt mit einem einzigen Zimmer in einer Pension begnügen
und Näharbeiten annehmen, nur um ihre beiden Kinder satt zu
bekommen. Wenigstens eine öffentliche Entschuldigung wäre
angebracht, das Eingeständnis, dass William, ja ihnen beiden
furchtbares Unrecht angetan worden war, und das Recht, seine
alte Position, sein altes Leben wieder aufzunehmen. War das
etwa zu viel verlangt? Sie schrieb einen wütenden Brief an Raw-
linson, Williams alten Wohltäter, erhielt aber nur eine knappe
Antwort seines Sekretärs mit den besten Wünschen für eine ra-
sche Genesung ihres Mannes und dem höflichen Hinweis, dass
Rawlinson für Bazalgette und das Amt für öffentliche Bauvor-
haben die größte Hochachtung hege; sie solle wissen, dass alle
En
n
tscheidu gen der Behörde in dieser Angelegenheit seine un-
eingeschränkte Unterstützung hätten.
Als Polly diesen Brief erhielt, schlug sie zornig mit dem Hand-
rücken dagegen, fuchtelte William damit ärgerlich vor der Nase
herum und verlangte, er solle ihren Unmut teilen. Doch William
zuckte nur kummervoll die Achseln und breitete die Arme aus.
In diesen Wochen nach seiner Freilassung suchte er ihre Nähe,
griff nach ihren Händen, wenn sie an ihm vorüberging, und barg
den Kopf in ihrer Schürze. Sein banger Blick folgte ihr, wenn sie
das Zimmer verließ. Er konnte es nicht ertragen, allein zu sein.
Die Wirtin erlaubte ihren Mietern sonntags die Benutzung der
Küche, und dort saß er gern mit Polly, den Schaukelstuhl an den
Herd gerückt. Am meisten mochte er es, wenn sie Brot
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