Der Vermesser
größeres Recht als die allermeisten. Kaum
zwanzig der hier versammelten Schaulustigen hätten den Cap-
tain gekannt, wenn er auf sie zugekommen wäre und ihnen die
Hand geschüttelt hätte. Lady dagegen kannte ihn nur zu gut.
Unterhalb ihrer rechten Schulter hatte sie eine frische bläuliche
Wunde, die sich dunkel von ihrer rosafarbenen Haut abhob.
Tom hatte sie mit Pfefferminzwasser gereinigt, aber sie sah noch
immer übel aus, und das machte ihm Sorgen. Um ehrlich zu
sein, hatte er sie deshalb hierher mitgenommen. Wenn sein Blick
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auf die Wunde fiel oder er nur daran dachte, kochte die Wut in
ihm hoch. Der Mistkerl hatte sich nicht damit begnügt, ihm
Lady wegzunehmen, o nein. Er hatte sie kleinmachen wollen.
Wenn er sie kampfunfähig gemacht hatte ...
Er spürte ihr zuckendes Ohr an seinem Mund, als sie den Kopf
hob und ihm das Kinn leckte. Sie würde gesund werden. Sie
würde, in einem Glaskasten ausgestellt, unsterblich sein, für je-
dermann sichtbar: eine der Großen. Hier und heute aber gab es
nur sie beide, gekommen, um dabei zu sein, wenn der Captain,
dieser Dreckskerl, seinen Weg in die Ewigkeit antrat. Er selbst
war weich geworden, überlegte Tom, und während er die Arme
fester um Lady schlang, musste er unwillkürlich grinsen. Der
Langarmige Tom, steinalt, aber weich wie Butter.
Nachdem die Kutschen des Sheriffs vorbeigefahren waren,
ging alles sehr rasch. Als es Viertel vor acht schlug, wurde die
Menge immer angespannter, gleichzeitig aber auch ruhiger. Man
reckte den Hals, ob nicht schon etwas zu sehen war, was darauf
hindeutete, dass der Delinquent gleich herauskommen würde.
Eine Leiter wurde gebracht und durch eine Seitentür ins Gefäng-
nis getragen. Wer noch Platz genug hatte, die Arme zu heben
und auf das Geschehen zu deuten, konnte sie nur mit Mühe wie-
der herunternehmen. Ein Arbeiter, der letzte Hand an einen Bal-
ken legte, wurde geneckt und angespornt. Über der wogenden
Menge öffneten sich Fenster, aus denen Menschen aufgeregt auf
Dächer und Vorsprünge kletterten.
Und dann endlich schlug die Uhr die volle Stunde. Als wären
die Glocken ein Dampfer, der mit seinen gewaltigen Rädern das
Menschenmeer durchpflügte, begann die Menge zu wanken und
zu wogen, und ein furchtbares Kreischen der Erregung ging wie
ein Ruck durch die Zuschauer. Zuerst war auf der Bühne nichts
zu sehen. Einsam stand das schwarze Gerüst des Galgens, dem
Lärm abgewandt, da. Tom musste an ein geprügeltes Kind den-
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ken, das sich verschämt in eine Ecke duckt. Dann öffnete sich
das schwarze Gefängnistor, und ein Kopf erschien. Alle hielten
den Atem an, um kurz darauf wie im Chor tief Luft zu holen. Es
war, als würden sie damit sämtliche Geräusche auf den Straßen
verschlucken, so dass es nun fast totenstill war. Wie sich zeigte,
war William Calcraft herausgetreten, der Henker von Newgate.
Hinter ihm erschien der Captain.
Sein schwarzer Anzug sah neu aus, und der Verband, den er
um den Hals trug, war blendend weiß wie die Halsbinde eines
vornehmen Herrn. Seine Hände waren vor dem Körper gefes-
selt, aber er bewegte sich, als würde er sie beim Gehen schwen-
ken, fast als stolzierte er. Er ließ den Blick über die Menge
schweifen, mit zusammengekniffenen Augen, weil ihn das helle
Morgenlicht blendete. Ein paar jugendliche Straßenhändler rie-
fen ihm etwas zu, doch die meisten Zuschauer waren verstummt
und gafften mit offenem Mund, als der Gefangene mit einer
Geste, deren Bedeutung Tom nicht verstand, die Arme hochriss.
Ein Raunen ging durch die Menge, eine sich fortpflanzende
Welle. Dann schob der Mann, der als Letzter herausgetreten war,
den Captain vorwärts, bis er direkt unter dem Galgen stand. Cal-
craft zog ein schwarzes Tuch aus der Hosentasche und band es
dem Delinquenten um den Kopf. In den Mienen der Zuschauer
war weder Mitleid noch Milde zu erkennen. Mit offenen, gei-
fernden Mündern reckten sich alle auf Zehenspitzen, bis die
Halssehnen hervortraten wie Schnüre. Man konnte unmöglich
verstehen, was der Geistliche sprach, aber jeder sah, dass sein
gieriger Blick so gar nicht zu dem feierlichen Zug um seinen
Mund passte. Dann wurde die Falltür weggezogen, und Hawke
stürzte in die Tiefe. Von seinem erhöhten Platz aus beobachtete
Tom, wie der Henker unter dem Galgen heftig an den Füßen des
Gehängten zog. Der Körper zuckte, dann blieb er, schwer wie ein
Sack, reglos hängen.
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Der Mann war tot.
Einen
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