Der Vermesser
Lebensraums und ihres
Vorkommens, ihrer Blütezeit und Häufigkeit zu klassifizieren
und zu katalogisieren. Eine dermaßen staubtrockene Betrach-
tungsweise verleide einem doch nur das Vergnügen, sich an ih-
rer Schönheit zu erfreuen, sagte sie. Für Polly war eine Blume
ein Ding von vergänglicher Schönheit; man bückte sich, pflück-
te sie und steckte sie sich an einem heißen Sommernachmittag
hinters Ohr, bis die Blütenblätter an der Wange welkten und
der Blumenduft sich mit dem Duft der Haare und dem salzigen
Schlafzimmergeruch der Haut vermischte. Dann schlug Wil-
liams Herz so heftig gegen die Rippen, dass er glaubte, sie wür-
den im nächsten Augenblick wie Streichhölzer knicken. Gegen
Pollys Argument kamen seine Bücher nicht an. Sie blieben ge-
schlossen. Stattdessen spazierte er Hand in Hand mit Polly durch
die Flussauen, und während sie das Gesicht wie eine Sonnen-
blume in den H
immel reckte, flehte er insgeheim, die Sonntags-
sonne möge niemals untergehen.
An einem solchen verzauberten Sonntagnachmittag fragte
William Polly, ob sie seine Frau werden wolle. In zwei Jahren, so
schätzte er, würde er heiraten können. Seine Tätigkeit im Ver-
messungsamt war zwar öde und wenig abwechslungsreich, aber
er hatte sich dort Kenntnisse angeeignet, die im Bauingenieur-
wesen zunehmend gefragt waren. Während sie so dahinspazier-
ten, schmiedeten sie Pläne für ihr gemeinsames Leben. Sie rich-
teten Zimmer ein, heizten Kamine an und dachten sich Namen
für ihre Kinder aus. Zu Williams Freude bevorzugte Polly Blu-
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mennamen für ein Mädchen: Viola, Margaret, Rose. Flohkraut,
scherzte William. Gänsefüßchen. Ruhrkraut. Oder Kreuzblume,
nach ihrer Mutter. Polygala amarella, Zwergkreuzblümchen.
Polly lachte und zwickte ihn in die Nase. Meine kleine Kreuz-
blume, nannte er sie dann. Er verzehrte sich in Sehnsucht nach
ihr, bis er kaum mehr atmen konnte, und zu seinem erstaunten
Entzücken erwiderte sie seine zaghaften Annäherungsversuche
mit einer Glut, die ihn nur noch mehr entflammte. Sie zogen
sich in die entlegenen Winkel der öffentlichen Parkanlage zu-
rück, wo niemand sie sehen konnte, während ihre Finger an sei1
nen Knöpfen herumnestelten, sein atemloser Mund an ihrem
Hals. Er konnte sie nicht in seine Unterkunft schleusen, denn
die Xanthippe von Hauswirtin bewachte die Treppe mit der un-
barmherzigen Strenge eines königlichen Gardesoldaten. Doch
an manchen Sonntagen, wenn die Familie des Doktors aus dem
Haus war, um einen Besuch zu machen, schlichen sie sich durch
den dunklen Korridor und schlüpften in Pollys schmale Bett-
statt. Ihre Brüste leuchteten im Dämmerlicht. Meine Liebste,
flüsterte er, wenn sie sich ihm entgegenreckte, ihr hochgesteck-
tes Haar sich löste und sie sich a f
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b ss, um nicht laut
aufzuschreien. Meine kostbare kleine Kreuzblume.
Der Sommer verging. Von der Front trafen Nachrichten ein,
anfangs nur spärlich, dann jedoch überstürzten sie sich regel-
recht. Zum ersten Mal überhaupt schickten mehrere Zeitungen,
allen voran die Times, eigene Korrespondenten direkt an die
Frontlinie, um von dort zu berichten. Sie gaben Zeugnis von
einem kläglichen, dilettantisch organisierten Feldzug, den alte,
unfähige Männer anführten und der aufgrund chronischen
Nachschubmangels und grassierender Seuchen zum Scheitern
verurteilt war. Noch bevor die Truppen Balaklawa erreicht hat-
ten, fielen zehntausend Soldaten der Cholera zum Opfer. Die
blutigen Schlachten von Alma und später Inkerman forderten
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Tausende weitere Menschenleben, ohne die verbündeten West-
mächte der Eroberung Sewastopols auch nur einen Schritt näher
zu bringen. Der Krieg, der im Freudentaumel begonnen hatte,
zog sich in den harten Winter hinein, ohne dass ein Ende abzu-
sehen war. Er blieb in Schnee und Eis stecken und brachte un-
endliches Leid.
Nicht nur auf der Krim, auch in London war der Winter bit-
terkalt, es war der schlimmste Winter, den England seit Beginn
der Wetteraufzeichnungen erlebte. Das Eis auf dem Serpentine
wurde fünfzehn Zentimeter dick, und die Fischer mussten sich
von den Wäscherinnen Sprengstoff erbitten, um die Eisdecke
aufzubrechen. Als sich ihre Niederkunft näherte und der Dok-
tor fürchtete, ihr Zustand könne nicht länger verborgen blei-
ben, rief er Polly erneut in sein Sprechzimmer. Stolz auf seine
radikalen Grundsätze, hatte er beschlossen, Pollys Lage nicht
ihrer
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