Der Vermesser
wusste,
dass sie ein furchtbares Risiko einging; das Kind zur Welt zu
bringen konnte sie zugrunde richten. Doch das drang nur vage
in ihr Bewusstsein, so wie sie dank des Globus im Kinderzimmer
84
wusste, dass die Erde nicht flach, sondern rund war, auch wenn
ihre Vorstellungskraft dafür nicht ausreichte.
Es war ein wunderbarer Sommer. An den langen, blassblauen
Abenden saß Polly mit den Kindern auf dem Sofa, bevor sie sie
zu Bett brachte, legte die Arme um sie und erzählte ihnen mit
leuchtenden Augen von dem Leben, das sie und William führen
würden, sobald er zurückkehrte; von dem Heim, in dem sie
wohnen würden, wenn er erst einmal aus der Armee entlassen
war, von dem blumengemusterten Porzellan, das ihr Essgeschirr
sein würde, und von den Namen, die sie ihren Kindern geben
würden. Die Kinder des Doktors lauschten verzückt. Das vorige
Kindermädchen hatte ihnen immer nur lehrreiche Geschichten
erzählt, zum Beispiel von dem Mädchen, das auf die große Fa-
milienbibel gestiegen war, um an ein Regal zu kommen, und
dann gestürzt und an seinen Verletzungen gestorben war. Pollys
Geschichten enthielten keine Belehrungen. Immer und immer
wieder wollten die Kinder hören, wie sich Polly und William in
Kew Gardens kennen gelernt hatten, obwohl sie doch selbst da-
bei gewesen waren. Sie konnten gar nicht genug kriegen von
dem schüchternen Soldaten mit den botanischen Skizzenbü-
chern unterm Arm, der George geholfen hatte, seinen Reifen aus
dem Gebüsch zu befreien, und schamhaft errötete, als Polly ihm
für diese Gefälligkeit dankte. Sie schütteten sich aus vor Lachen
bei der Vorstellung, dass er, in Liebe entbrannt zu dem hübschen
Kindermädchen, ihnen heimlich in das große Gewächshaus ge-
folgt war, bis er endlich den Mut aufbrachte, auf Polly zuzuge-
hen und seinen Namen zu stammeln. Von dieser Version der Ge-
schichte waren sie so begeistert, dass sie beschlossen hatten,
einfach zu vergessen, dass es ja in Wirklichkeit Alice gewesen
war, die den Soldaten beim Zeichnen im tropischen Gewächs-
haus entdeckt hatte. Sie war auf ihn zugestürmt, hatte den wi-
derstrebenden William mitgezogen und darauf bestanden, dass
85
er ihnen die detailgetreuen, wun
derschönen Zeichnungen in sei-
nem Skizzenbuch zeigte.
»Und dann sagte George: ›Ach, übrigens ...‹«
»Polly!«, protestierte Alice. »Du hast versprochen, nichts aus-
zulassen.«
Polly grinste. »Schon gut, Madame, nur keine Aufregung. Ich
also zu ihm: ›Die Kinder sagen immer, ich hätte keinen blassen
Schimmer von Pflanzern, darauf er: ›Ich kenne mich auch nur
aus, weil ich einen guten Lehrer hatte.‹ Und ich wieder: Viel-
leicht könnten Sie es mir beibringen?‹ Darauf hastig er: ›O ja!‹,
und dann: ›Wenn Sie das wirklich möchten‹ – wie ein feiner
Herr, nur eine i
W nzigkeit zu
e
zög rlich, und dann wird er rot bis
zu den Wurzeln seines goldblonden Haars.«
Alice klatschte in die Hände. »Genau. Und dann hat George
gesagt: ›Übrigens, sie heißt Polly‹, und er darauf ...«
Sie sah George an, dann prusteten sie beide los und riefen im
Chor: »Polygalaceae.«
Das Kichern der beiden Kinder hatte William völlig durch-
einander gebracht. Das Wort war ihm herausgerutscht. Denn bei
dem Namen Polly war ihm Polygonaceae eingefallen, der botani-
sche Name für Knöterichgewächse, und Polygalaceae, das waren
die Kreuzblumengewächse. Beide Pflanzengattungen waren klein
und robust, sie wuchsen auf Wiesen und Brachland; die Blüten
der Kreuzblumen waren von überraschender Anmut, mit zar-
ten weißen Blütenblättern, die aus dem glockenförmigen Blü-
tenkelch wie ein spitzenbesetzter Petticoat herauswuchsen. Polly
hatte breite, kräftige Schultern und auseinander stehende, kara-
mellbraune Augen mit Flecken, golden wie Blütenpollen, aber
ihre Taille und ihre Handgelenke waren schmal und zierlich. Sie
roch nach zerknitterter Bettwäsche, nach Gras und Salz und ein
wenig nach Karbolseife.
Es war Polly, die William vorschlug, sie an ihrem freien Nach-
86
mittag vom Haus des Doktors abzuholen. Von da an verbrach-
ten sie jeden Sonntagnachmittag zusammen, auch wenn Polly
sich mit unbekümmerter Entschlossenheit gegen Williams Ver-
suche sperrte, ihr ein paar botanische Grundbegriffe beizubrin-
gen. Sie weigerte sich, eine Blume als ein Gebilde aus Kelch–,
Blüten–, Staub- und Fruchtblättern zu betrachten und sie ent-
sprechend den Besonderheiten ihres
Weitere Kostenlose Bücher