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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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dem er kämpfte; aber sie
    wusste, dass er seine Pflicht erfüllte und, sobald der Feldzug zu
    Ende war, zu ihr zurückkehren würde. Polly besaß die Gabe der
    Zufriedenheit. Es lag ihr nicht, lange über unangenehme Dinge
    nachzusinnen, es entsprach einfach nicht ihrem Naturell. Dabei
    hatte sie durchaus schon Not und Elend erlebt. Nach dem Tod
    ihres Vaters, als Polly noch klein war, stand die Bauernfamilie
    ohne einen Penny da, und noch vor ihrem elften Geburtstag
    musste sie die Schule verlassen und eine Stellung als Dienstmäd-
    chen antreten. Aber das Leben hatte sie nicht ängstlich und grüb-
    lerisch gemacht, und sie weigerte sich, es zu werden. Was hatte es

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    für einen Sinn, statt der Nacht den Tag herbeizusehnen? Wenn es
    so weit war, würde William zurückkommen. Derweil hatte sie
    eine angenehme Stellung in einer freundlichen Familie, sie liebte
    die Kinder, sang, während sie das Kinderzimmer aufräumte, und
    lachte herzlich über das geradezu vorbildlich wutverzerrte Ge-
    sicht eines bemalten Spielzeugsoldaten und die unangebrachte
    Erhabenheit in den Knopfaugen eines ausgestopften Kaninchens.
    Alles, was tiefgründige Ernsthaftigkeit ausdrückte, rührte und
    amüsierte sie zugleich.
    Auch über Williams Ernsthaftigkeit hatte sie stets nur gelacht.
    Sie hatte ihm die Furchen auf seiner Stirn glatt gestrichen und
    sich auf die Zehenspitzen gestellt, um ihn auf den zusammenge-
    kniffenen Mund zu küssen, bis auch er lachen musste und sie in
    die Arme nahm. Mit ihr, sagte er und zeichnete mit dem Finger
    die Rundung ihrer Wange nach, könne er nie lange unglücklich
    sein. Hätte sie ihn nicht mit einem Kuss zum Schweigen ge-
    bracht, hätte er ihr noch mehr gesagt. Er hätte ihr gesagt, dass er
    in ihrer Gegenwart aus sich selbst herausgehe und den Krämer-
    sohn mit den zwei linken Füßen, der sich alles viel zu sehr zu
    Herzen nahm, wie eine alte Haut abstreife. Bei ihr vergaß er, dass
    das Leben unvorhersehbar und grausam war, dass Väter starben
    und Glück nicht von Dauer war und dass alles, was sicher schien,
    plötzlich in unerreichbare Ferne rücken konnte. Er vergaß sei-
    nen Vorsatz, auf der Hut zu sein, sich stets abseits zu halten und
    auf festem Boden zu bleiben, der seinen Füßen vertraut war wie
    ein Paar alte Schuhe. Ja, wenn er mit Polly zusammen war, ver-
    gaß er, dass er überhaupt Füße hatte. Mit ihr wirbelte er, Purzel-
    bäume schlagend, durch die Tage, so benommen vor unfassba-
    rem Glück, dass er nicht mehr wusste, was oben und was unten
    war. Er hatte das Gefühl, als hätte er mitten im Winter ein Fens-
    ter aufgestoßen und dabei festgestellt, dass draußen auf der
    Wiese der Sommer eingekehrt war. Ihre Wärme erfüllte ihn wie

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    der Sonnenschein. Polly wiederum fühlte sich durch Williams
    bedächtigen Ernst sicher und geborgen. Sie hätte ihre Gefühle
    zwar nie in Gedanken oder Worte fassen können, aber sie be-
    griff, dass sie durch seine Erdenschwere am Boden gehalten
    wurde, so wie der Heißluftballon über dem Vergnügungspark in
    Cremorne mit Seilen gesichert war. Er würde sie nie davontrei-
    ben lassen.
    In dem Monat, nachdem William in See gestochen war, trat
    Polly jeden Morgen kalter Schweiß auf Stirn und Unterarme,
    während sie die Kleinen herausputzte, und ihr war speiübel, bis
    sie sich in die Schüssel auf der Waschkommode erbrach. Als
    George mit vor Ekel verzerrtem Gesicht seinem Vater von die-
    sem allmorgendlichen Ritual berichtete, rief der Doktor Polly in
    sein Sprechzimmer. Ihr Verhalten sei unentschuldbar, meinte er
    streng, aber obwohl er aufrichtig hoffe, dass sie vor ihm und vor
    Gott Scham empfinde, könne man durchaus etwas gegen ihren
    Zustand tun. Der Doktor war auf Frauenheilkunde spezialisiert
    und hatte sich in eingeweihten Kreisen gewissermaßen das Re-
    no
    e
    mme erworben, Frauen zu helfen, die in Schwierigkeiten
    steckten. Und er bot ihr seine Hilfe an.
    Aber Polly lehnte höflich ab. Sie war überzeugt, dass sich
    alles zum Guten wendete. Es würde noch Monate dauern, bis
    ihre Schwangerschaft zu sehen war. Wenn der Krieg zu Ende
    ging – und alle sagten, dass er bald vorüber wäre –, würde Wil-
    liam zurückkommen. Dann würden sie heiraten, ehe das Baby
    geboren wäre. Und glücklich sein. Darüber hinaus gestattete sie
    sich keine weiteren Gedanken. Abends saß sie im Kinderzimmer
    am Kamin, die Näharbeit müßig in ihrem Schoß, und lächelte in
    das feierliche Antlitz des ausgestopften Kaninchens. Sie

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