Der Vermesser
dem er kämpfte; aber sie
wusste, dass er seine Pflicht erfüllte und, sobald der Feldzug zu
Ende war, zu ihr zurückkehren würde. Polly besaß die Gabe der
Zufriedenheit. Es lag ihr nicht, lange über unangenehme Dinge
nachzusinnen, es entsprach einfach nicht ihrem Naturell. Dabei
hatte sie durchaus schon Not und Elend erlebt. Nach dem Tod
ihres Vaters, als Polly noch klein war, stand die Bauernfamilie
ohne einen Penny da, und noch vor ihrem elften Geburtstag
musste sie die Schule verlassen und eine Stellung als Dienstmäd-
chen antreten. Aber das Leben hatte sie nicht ängstlich und grüb-
lerisch gemacht, und sie weigerte sich, es zu werden. Was hatte es
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für einen Sinn, statt der Nacht den Tag herbeizusehnen? Wenn es
so weit war, würde William zurückkommen. Derweil hatte sie
eine angenehme Stellung in einer freundlichen Familie, sie liebte
die Kinder, sang, während sie das Kinderzimmer aufräumte, und
lachte herzlich über das geradezu vorbildlich wutverzerrte Ge-
sicht eines bemalten Spielzeugsoldaten und die unangebrachte
Erhabenheit in den Knopfaugen eines ausgestopften Kaninchens.
Alles, was tiefgründige Ernsthaftigkeit ausdrückte, rührte und
amüsierte sie zugleich.
Auch über Williams Ernsthaftigkeit hatte sie stets nur gelacht.
Sie hatte ihm die Furchen auf seiner Stirn glatt gestrichen und
sich auf die Zehenspitzen gestellt, um ihn auf den zusammenge-
kniffenen Mund zu küssen, bis auch er lachen musste und sie in
die Arme nahm. Mit ihr, sagte er und zeichnete mit dem Finger
die Rundung ihrer Wange nach, könne er nie lange unglücklich
sein. Hätte sie ihn nicht mit einem Kuss zum Schweigen ge-
bracht, hätte er ihr noch mehr gesagt. Er hätte ihr gesagt, dass er
in ihrer Gegenwart aus sich selbst herausgehe und den Krämer-
sohn mit den zwei linken Füßen, der sich alles viel zu sehr zu
Herzen nahm, wie eine alte Haut abstreife. Bei ihr vergaß er, dass
das Leben unvorhersehbar und grausam war, dass Väter starben
und Glück nicht von Dauer war und dass alles, was sicher schien,
plötzlich in unerreichbare Ferne rücken konnte. Er vergaß sei-
nen Vorsatz, auf der Hut zu sein, sich stets abseits zu halten und
auf festem Boden zu bleiben, der seinen Füßen vertraut war wie
ein Paar alte Schuhe. Ja, wenn er mit Polly zusammen war, ver-
gaß er, dass er überhaupt Füße hatte. Mit ihr wirbelte er, Purzel-
bäume schlagend, durch die Tage, so benommen vor unfassba-
rem Glück, dass er nicht mehr wusste, was oben und was unten
war. Er hatte das Gefühl, als hätte er mitten im Winter ein Fens-
ter aufgestoßen und dabei festgestellt, dass draußen auf der
Wiese der Sommer eingekehrt war. Ihre Wärme erfüllte ihn wie
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der Sonnenschein. Polly wiederum fühlte sich durch Williams
bedächtigen Ernst sicher und geborgen. Sie hätte ihre Gefühle
zwar nie in Gedanken oder Worte fassen können, aber sie be-
griff, dass sie durch seine Erdenschwere am Boden gehalten
wurde, so wie der Heißluftballon über dem Vergnügungspark in
Cremorne mit Seilen gesichert war. Er würde sie nie davontrei-
ben lassen.
In dem Monat, nachdem William in See gestochen war, trat
Polly jeden Morgen kalter Schweiß auf Stirn und Unterarme,
während sie die Kleinen herausputzte, und ihr war speiübel, bis
sie sich in die Schüssel auf der Waschkommode erbrach. Als
George mit vor Ekel verzerrtem Gesicht seinem Vater von die-
sem allmorgendlichen Ritual berichtete, rief der Doktor Polly in
sein Sprechzimmer. Ihr Verhalten sei unentschuldbar, meinte er
streng, aber obwohl er aufrichtig hoffe, dass sie vor ihm und vor
Gott Scham empfinde, könne man durchaus etwas gegen ihren
Zustand tun. Der Doktor war auf Frauenheilkunde spezialisiert
und hatte sich in eingeweihten Kreisen gewissermaßen das Re-
no
e
mme erworben, Frauen zu helfen, die in Schwierigkeiten
steckten. Und er bot ihr seine Hilfe an.
Aber Polly lehnte höflich ab. Sie war überzeugt, dass sich
alles zum Guten wendete. Es würde noch Monate dauern, bis
ihre Schwangerschaft zu sehen war. Wenn der Krieg zu Ende
ging – und alle sagten, dass er bald vorüber wäre –, würde Wil-
liam zurückkommen. Dann würden sie heiraten, ehe das Baby
geboren wäre. Und glücklich sein. Darüber hinaus gestattete sie
sich keine weiteren Gedanken. Abends saß sie im Kinderzimmer
am Kamin, die Näharbeit müßig in ihrem Schoß, und lächelte in
das feierliche Antlitz des ausgestopften Kaninchens. Sie
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