Der Vermesser
Lasterhaftigkeit, sondern ihrer Dummheit zuzuschreiben.
Polly war zwar ungebildet, aber von sanftem Gemüt, und die
Kinder hingen an ihr. Wenn ihr Geliebter im Krieg gefallen war,
wie der Doktor vermutete, konnte sie sich als Witwe ausgeben.
Zwar würde er all seine Überredungskünste aufbieten müssen,
aber er war zuversichtlich, dass seine Gattin Polly nach ihrer
Entbindung erlauben würde, bei ihnen zu bleiben, solange die
Kinder nichts von der Sache erfuhren. Er kannte eine Frau in
Battersea, die eine Art Findelhaus leitete, wo der Säugling für
ein geringes Entgelt unterkommen konnte. Nur wenige in ihrer
Position durften auf solche Güte hoffen, doch Polly zeigte sich
wenig überrascht von dem Vorschlag des Doktors und war ein-
verstanden. Lachte das Glück nicht dem, der ihm vertraute?
Am Ende ihres siebten Schwangerschaftsmonats fuhr sie mit
der Kutsche zu dem bescheidenen Cottage ihres Bruders nach
Kent, wo sie die letzten Wochen vor der Niederkunft ver-
brachte. Ihre Schwägerin, die selbst keine Kinder bekommen
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konnte, bot mit missgünstiger Scheinheiligkeit an, das Kind
nach der Geburt als ihr eigenes anzunehmen. Darüber konnte
Polly nur lachen.
Sobald sie wieder reisefähig war, kehrte sie ins Haus des Dok-
tors zurück und ging dort ihren gewohnten Pflichten nach. Sie
wollte nichts von der Front hören. Schließlich schmolz in Lon-
don der Schnee, und die ungepflasterten Straßen von Battersea
weichten auf und wurden rutschig. Jeden Sonntagnachmittag
stapfte sie durch den Matsch zu dem baufälligen Häuschen der
Alten hinter den Bahngleisen. Nur selten ging sie mit dem klei-
nen William ins Freie. Sie wiegte ihn in ihrem Schoß, sog seinen
süßen milchigen Geruch ein und konnte sich gar nicht satt sehen
an ihm. Er blickte sie mit seinen karamellbraunen, goldgespren-
kelten Augen an. Der süße kleine William. Ein kräftiges Baby,
das so gar nichts von einer Blume an sich hatte. Nur wenn es
schrie, wurde sein Gesicht purpurrot wie ein Waldfingerhut.
Dann beruhigte sie ihn, schmiegte seine weiche Wange an ihr
Gesicht und flüsterte ihm von jenem vollkommenen Glück ins
Ohr, das sie beide erwartete, sobald sein Vater aus dem Krieg
wiederkam. Er würde sie, seine beiden kostbaren Blumen, in
die Arme schließen und fest an sich drücken. Er würde ihnen
Sicherheit und Geborgenheit schenken.
Den ausgemergelten, gehetzten Mann, der Ende 1855 zu ihr
zurückkehrte, erkannte Polly kaum wieder. Ihr Sohn war nun
fast ein Jahr alt. William akzeptierte das Baby, ohne zu fragen,
genau wie Polly es erwartet hatte. Manchmal saß er stundenlang
an seinem Bettchen, während es schlief, und strich die Häkelde-
cke glatt. Aber als Polly sich auf Zehenspitzen stellte, um ihn zu
küssen, sah er sie nur verständnislos an. Er redete kaum ein
Wort. Er nannte sie nicht mehr seine Blume, seine kostbare
Kreuzblume. Er sprach überhaupt nicht mehr von Blumen, ob-
wohl er nach wie vor seine abgegriffenen botanischen Skizzen-
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bücher in der Jackentasche bei sich trug. Auf dem Ledereinband
eines dieser Bücher sah man einen verlaufenen dunklen Fleck.
Manchmal, wenn sie ihn drängte, das Baby in den Armen zu
wiegen, und er in das pausbackige Gesicht seines Sohnes blickte,
erstarrte er und gab ihr mit einem panischen Ausdruck den
Säugling schnell wieder zurück. Seine Wangenknochen ragten
spitz wie Ellbogen aus dem Gesicht.
Am letzten Tag im Januar 1856 wurden sie getraut. Polly hatte
alles arrangiert und ließ sich nicht entmutigen. Er brauchte Zeit,
um sich an seine Rolle als Vater zu gewöhnen, tröstete sie sich
und ihn. Er brauchte Ruhe und nahrhaftes Essen, um wieder
Fleisch auf die Knochen zu bekommen. Vor allem aber musste
er eine Arbeit finden, damit sie als Familie zusammenleben
konnten. Die kleine Pension, die William von der Armee er-
hielt, reichte kaum für ihn allein, so dass Polly ihre Tätigkeit
beim Doktor nicht aufgeben konnte. Sie redete ihm zu, sich eine
Stelle als Kartograph zu suchen oder im Ingenieurwesen, wo er
auf seinen Erfahrungen in Skutari aufbauen konnte. Heimlich
schrieb sie einen Brief an Mr. Rawlinson, in dem sie ihn um Hilfe
bat; die Zunge zwischen den Zähnen, malte sie mühsam die
Worte aufs Papier. Er schrieb ihr mit ausgesuchter Höflichkeit
zurück, er hege die größte Achtung vor ihrem Mann, aber da er
selbst noch nicht genesen sei, könne er ihr im Augenblick nicht
helfen. William zeigte sie den Brief nicht,
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