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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Lasterhaftigkeit, sondern ihrer Dummheit zuzuschreiben.
    Polly war zwar ungebildet, aber von sanftem Gemüt, und die
    Kinder hingen an ihr. Wenn ihr Geliebter im Krieg gefallen war,
    wie der Doktor vermutete, konnte sie sich als Witwe ausgeben.
    Zwar würde er all seine Überredungskünste aufbieten müssen,
    aber er war zuversichtlich, dass seine Gattin Polly nach ihrer
    Entbindung erlauben würde, bei ihnen zu bleiben, solange die
    Kinder nichts von der Sache erfuhren. Er kannte eine Frau in
    Battersea, die eine Art Findelhaus leitete, wo der Säugling für
    ein geringes Entgelt unterkommen konnte. Nur wenige in ihrer
    Position durften auf solche Güte hoffen, doch Polly zeigte sich
    wenig überrascht von dem Vorschlag des Doktors und war ein-
    verstanden. Lachte das Glück nicht dem, der ihm vertraute?
    Am Ende ihres siebten Schwangerschaftsmonats fuhr sie mit
    der Kutsche zu dem bescheidenen Cottage ihres Bruders nach
    Kent, wo sie die letzten Wochen vor der Niederkunft ver-
    brachte. Ihre Schwägerin, die selbst keine Kinder bekommen

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    konnte, bot mit missgünstiger Scheinheiligkeit an, das Kind
    nach der Geburt als ihr eigenes anzunehmen. Darüber konnte
    Polly nur lachen.
    Sobald sie wieder reisefähig war, kehrte sie ins Haus des Dok-
    tors zurück und ging dort ihren gewohnten Pflichten nach. Sie
    wollte nichts von der Front hören. Schließlich schmolz in Lon-
    don der Schnee, und die ungepflasterten Straßen von Battersea
    weichten auf und wurden rutschig. Jeden Sonntagnachmittag
    stapfte sie durch den Matsch zu dem baufälligen Häuschen der
    Alten hinter den Bahngleisen. Nur selten ging sie mit dem klei-
    nen William ins Freie. Sie wiegte ihn in ihrem Schoß, sog seinen
    süßen milchigen Geruch ein und konnte sich gar nicht satt sehen
    an ihm. Er blickte sie mit seinen karamellbraunen, goldgespren-
    kelten Augen an. Der süße kleine William. Ein kräftiges Baby,
    das so gar nichts von einer Blume an sich hatte. Nur wenn es
    schrie, wurde sein Gesicht purpurrot wie ein Waldfingerhut.
    Dann beruhigte sie ihn, schmiegte seine weiche Wange an ihr
    Gesicht und flüsterte ihm von jenem vollkommenen Glück ins
    Ohr, das sie beide erwartete, sobald sein Vater aus dem Krieg
    wiederkam. Er würde sie, seine beiden kostbaren Blumen, in
    die Arme schließen und fest an sich drücken. Er würde ihnen
    Sicherheit und Geborgenheit schenken.
    Den ausgemergelten, gehetzten Mann, der Ende 1855 zu ihr
    zurückkehrte, erkannte Polly kaum wieder. Ihr Sohn war nun
    fast ein Jahr alt. William akzeptierte das Baby, ohne zu fragen,
    genau wie Polly es erwartet hatte. Manchmal saß er stundenlang
    an seinem Bettchen, während es schlief, und strich die Häkelde-
    cke glatt. Aber als Polly sich auf Zehenspitzen stellte, um ihn zu
    küssen, sah er sie nur verständnislos an. Er redete kaum ein
    Wort. Er nannte sie nicht mehr seine Blume, seine kostbare
    Kreuzblume. Er sprach überhaupt nicht mehr von Blumen, ob-
    wohl er nach wie vor seine abgegriffenen botanischen Skizzen-

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    bücher in der Jackentasche bei sich trug. Auf dem Ledereinband
    eines dieser Bücher sah man einen verlaufenen dunklen Fleck.
    Manchmal, wenn sie ihn drängte, das Baby in den Armen zu
    wiegen, und er in das pausbackige Gesicht seines Sohnes blickte,
    erstarrte er und gab ihr mit einem panischen Ausdruck den
    Säugling schnell wieder zurück. Seine Wangenknochen ragten
    spitz wie Ellbogen aus dem Gesicht.
    Am letzten Tag im Januar 1856 wurden sie getraut. Polly hatte
    alles arrangiert und ließ sich nicht entmutigen. Er brauchte Zeit,
    um sich an seine Rolle als Vater zu gewöhnen, tröstete sie sich
    und ihn. Er brauchte Ruhe und nahrhaftes Essen, um wieder
    Fleisch auf die Knochen zu bekommen. Vor allem aber musste
    er eine Arbeit finden, damit sie als Familie zusammenleben
    konnten. Die kleine Pension, die William von der Armee er-
    hielt, reichte kaum für ihn allein, so dass Polly ihre Tätigkeit
    beim Doktor nicht aufgeben konnte. Sie redete ihm zu, sich eine
    Stelle als Kartograph zu suchen oder im Ingenieurwesen, wo er
    auf seinen Erfahrungen in Skutari aufbauen konnte. Heimlich
    schrieb sie einen Brief an Mr. Rawlinson, in dem sie ihn um Hilfe
    bat; die Zunge zwischen den Zähnen, malte sie mühsam die
    Worte aufs Papier. Er schrieb ihr mit ausgesuchter Höflichkeit
    zurück, er hege die größte Achtung vor ihrem Mann, aber da er
    selbst noch nicht genesen sei, könne er ihr im Augenblick nicht
    helfen. William zeigte sie den Brief nicht,

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