Der Vermesser
Asche, mit der der Lehm vermischt war, in
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den Stein einbrannte. Gelbe Mauerziegel waren zwar billig und
konnten in unbegrenzter Menge fabriziert werden, für Abwas-
serkanäle jedoch waren sie viel zu weich. Sie saugten die Feuch-
tigkeit auf wie ein Schwamm. Die Backsteine mussten entweder
von hoher natürlicher Dichte sein wie die blauen Staffordshires,
die teuer und nur in begrenzter Zahl lieferbar waren, oder man
musste eine Technik erfinden, um gewöhnliche Backsteine so zu
lasieren, wie es Mr. Doulton in der Keramikmanufaktur in Lam-
beth mit den Tonröhren gelungen war. Doch wie konnte man
lasierte Backsteine, die gewöhnlich nur für dekorative Zwecke
verwendet wurden, billig und in der erforderlichen Menge her-
stellen? Hawke, der neue Mann, behauptete, das sei nicht mög-
lich; und ohnehin seien die Backsteine aus dem Londoner Lehm
bestens geeignet, sofern man sie nur etwas länger als normal
brannte. Schließlich gebe es in der Stadt Ziegeleien in Hülle und
Fülle, und für Bazalgettes Plan würden Dutzende Millionen
Backsteine benötigt. William hatte ihm widersprochen. Seiner
Meinung nach gab es nur eine Ziegelei, die dazu in der Lage
war – eine Fabrik in Strowbridge, die weltweit als erste makellos
lasierte Porzellanbadewannen produzierte. Für diese Leistung
war der Hersteller bei der Weltausstellung 1851 mit der Goldme-
daille ausgezeichnet worden, und entsprechend groß war inzwi-
schen die Nachfrage von Krankenhäusern und Heimen nach
diesen Wannen. Um der Nachfrage gerecht zu werden, hatte die
Firma eine patentierte Herstellungsmethode entwickelt – zehn
miteinander verbundene Brennöfen, verteilt über eine Fläche
von fast einem Hektar, die dank ihrer raffinierten Bauweise und
eines ausgeklügelten Systems von Rauchgaskanälen trotz ihres
großen Volumens nur wenig Brennstoff benötigten und somit
die Herstellung Hunderter Badewannen pro Woche ermöglich-
ten. Wenn man nur einige Brennöfen mehr in Betrieb nehmen
und die gesamte Produktion auf Backstein umstellen würde ...
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Tapsende Schritte auf den Fliesen im Flur holten ihn in die
Wirklichkeit zurück. Es war längst dunkel geworden, doch der
Vollmond, der am Firmament glänzte, warf silberne Streifen auf
den Hof. Wenn Polly fragte, würde er sagen, er habe über den
Garten nachgedacht, beschloss er hastig. Das würde sie freuen.
Aber als er sich umdrehte, stand sein Sohn vor ihm und sah ihn
mit schläfrigen Augen an, den Daumen im Mund. Auf seinen
so
p
mmers rossigen Wangen hatten ä
Tr nen salzige Spuren hinter-
lassen.
»Hallo, kleiner Mann«, murmelte William und breitete die
Arme aus. Der Junge ließ sich hineinfallen, und als William auf-
stand und ihn hinauftrug, war der Kleine fast schon wieder ein-
geschlafen. Der Mond ergoss sein glänzendes Licht über das
Bettchen. William legte seinen Sohn hinein und deckte ihn zu.
Seine Lider haben die gleiche Maserung wie die seiner Mutter,
dachte William, so zart und weit verzweigt wie die Äderung eines
Blattes. Muster, wie er sie schon mit einem Stock in die Erde ge-
ritzt oder in seine Kladde in der Greek Street gezeichnet hatte,
Muster wie ...
Nachdenklich strich er über die Innenseite seines Unterarms
und ertastete die Wülste unter dem dünnen Baumwollstoff des
Ärmels. Er hatte keine offenen Schnittwunden mehr, nur ver-
blassende Narben und rosafarbene Linien dort, wo sich der
Schorf abgelöst hatte. Gewiss, es gab viele Tage, an denen er sich
hilflos und unsicher fühlte und sich vorsichtig und mit steifen
Armen bewegte, als würde er Wasser in einem flachen Gefäß
transportieren, das jeden Moment herausschwappen konnte.
Aber er hatte nicht mehr das Gefühl, sich aufzulösen. Berührte er
nachts Pollys heiße, feuchte Haut, dann erbebten seine Lenden.
Hielt er seinen Sohn in den Armen, spürte er fast bis in die Fuß-
sohlen eine schmerzliche, liebevolle Zuneigung. Untersuchte er
die Machart eines Backsteins, dehnte und streckte sich sein Geist.
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Wenn er an seinen besten Tagen still dasaß, empfand er fast so
etwas wie Zufriedenheit. Und an schlechten Tagen, wenn er
merkte, dass das Gefäß zu zittern anfing und überzuschwappen
drohte, verkroch er sich in den Abwasserkanälen und blieb dort,
bis es vorüber war.
Seit fast einem Monat hatte er sich nicht mehr geschnitten. Er
wagte es kaum zu hoffen, aber irgendwo in seinem Hinterkopf
regte sich der Gedanke, dass sein Blut vielleicht doch
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