Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
Asche, mit der der Lehm vermischt war, in

    115
    den Stein einbrannte. Gelbe Mauerziegel waren zwar billig und
    konnten in unbegrenzter Menge fabriziert werden, für Abwas-
    serkanäle jedoch waren sie viel zu weich. Sie saugten die Feuch-
    tigkeit auf wie ein Schwamm. Die Backsteine mussten entweder
    von hoher natürlicher Dichte sein wie die blauen Staffordshires,
    die teuer und nur in begrenzter Zahl lieferbar waren, oder man
    musste eine Technik erfinden, um gewöhnliche Backsteine so zu
    lasieren, wie es Mr. Doulton in der Keramikmanufaktur in Lam-
    beth mit den Tonröhren gelungen war. Doch wie konnte man
    lasierte Backsteine, die gewöhnlich nur für dekorative Zwecke
    verwendet wurden, billig und in der erforderlichen Menge her-
    stellen? Hawke, der neue Mann, behauptete, das sei nicht mög-
    lich; und ohnehin seien die Backsteine aus dem Londoner Lehm
    bestens geeignet, sofern man sie nur etwas länger als normal
    brannte. Schließlich gebe es in der Stadt Ziegeleien in Hülle und
    Fülle, und für Bazalgettes Plan würden Dutzende Millionen
    Backsteine benötigt. William hatte ihm widersprochen. Seiner
    Meinung nach gab es nur eine Ziegelei, die dazu in der Lage
    war – eine Fabrik in Strowbridge, die weltweit als erste makellos
    lasierte Porzellanbadewannen produzierte. Für diese Leistung
    war der Hersteller bei der Weltausstellung 1851 mit der Goldme-
    daille ausgezeichnet worden, und entsprechend groß war inzwi-
    schen die Nachfrage von Krankenhäusern und Heimen nach
    diesen Wannen. Um der Nachfrage gerecht zu werden, hatte die
    Firma eine patentierte Herstellungsmethode entwickelt – zehn
    miteinander verbundene Brennöfen, verteilt über eine Fläche
    von fast einem Hektar, die dank ihrer raffinierten Bauweise und
    eines ausgeklügelten Systems von Rauchgaskanälen trotz ihres
    großen Volumens nur wenig Brennstoff benötigten und somit
    die Herstellung Hunderter Badewannen pro Woche ermöglich-
    ten. Wenn man nur einige Brennöfen mehr in Betrieb nehmen
    und die gesamte Produktion auf Backstein umstellen würde ...

    116
    Tapsende Schritte auf den Fliesen im Flur holten ihn in die
    Wirklichkeit zurück. Es war längst dunkel geworden, doch der
    Vollmond, der am Firmament glänzte, warf silberne Streifen auf
    den Hof. Wenn Polly fragte, würde er sagen, er habe über den
    Garten nachgedacht, beschloss er hastig. Das würde sie freuen.
    Aber als er sich umdrehte, stand sein Sohn vor ihm und sah ihn
    mit schläfrigen Augen an, den Daumen im Mund. Auf seinen
    so
    p
    mmers rossigen Wangen hatten ä
    Tr nen salzige Spuren hinter-
    lassen.
    »Hallo, kleiner Mann«, murmelte William und breitete die
    Arme aus. Der Junge ließ sich hineinfallen, und als William auf-
    stand und ihn hinauftrug, war der Kleine fast schon wieder ein-
    geschlafen. Der Mond ergoss sein glänzendes Licht über das
    Bettchen. William legte seinen Sohn hinein und deckte ihn zu.
    Seine Lider haben die gleiche Maserung wie die seiner Mutter,
    dachte William, so zart und weit verzweigt wie die Äderung eines
    Blattes. Muster, wie er sie schon mit einem Stock in die Erde ge-
    ritzt oder in seine Kladde in der Greek Street gezeichnet hatte,
    Muster wie ...
    Nachdenklich strich er über die Innenseite seines Unterarms
    und ertastete die Wülste unter dem dünnen Baumwollstoff des
    Ärmels. Er hatte keine offenen Schnittwunden mehr, nur ver-
    blassende Narben und rosafarbene Linien dort, wo sich der
    Schorf abgelöst hatte. Gewiss, es gab viele Tage, an denen er sich
    hilflos und unsicher fühlte und sich vorsichtig und mit steifen
    Armen bewegte, als würde er Wasser in einem flachen Gefäß
    transportieren, das jeden Moment herausschwappen konnte.
    Aber er hatte nicht mehr das Gefühl, sich aufzulösen. Berührte er
    nachts Pollys heiße, feuchte Haut, dann erbebten seine Lenden.
    Hielt er seinen Sohn in den Armen, spürte er fast bis in die Fuß-
    sohlen eine schmerzliche, liebevolle Zuneigung. Untersuchte er
    die Machart eines Backsteins, dehnte und streckte sich sein Geist.

    117
    Wenn er an seinen besten Tagen still dasaß, empfand er fast so
    etwas wie Zufriedenheit. Und an schlechten Tagen, wenn er
    merkte, dass das Gefäß zu zittern anfing und überzuschwappen
    drohte, verkroch er sich in den Abwasserkanälen und blieb dort,
    bis es vorüber war.
    Seit fast einem Monat hatte er sich nicht mehr geschnitten. Er
    wagte es kaum zu hoffen, aber irgendwo in seinem Hinterkopf
    regte sich der Gedanke, dass sein Blut vielleicht doch

Weitere Kostenlose Bücher