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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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endgültig
    von aller Schwärze gereinigt worden war. Beim letzten Mal hatte
    ihn die Intensität des Erlebnisses weit über alles hinausgetragen,
    was er bis dahin gekannt hatte, und er hatte sich der wohligen
    Ekstase der Erlösung vollkommen hingegeben. Die Zeit war ver-
    gangen wie im Flug. Als dann das warnende Scheppern des Ka-
    naldeckels ertönte, dauerte es einige Minuten, bis er wieder in
    die Gegenwart zurückfand. Sein ganzes Sein war durchdrungen
    von einer weißen, reinen Ruhe, in der sich die Buchstaben seines
    Namens in einer unendlichen Abfolge ständig wiederholten. Er
    war William. Sein laut pochendes Herz bekräftigte es: William –
    William – William. Er war in Sicherheit. Er stand auf und tastete
    nach dem Messer in seinem Schoß, aber es war nicht da. Es lag
    auch nicht in der Nische. Er erinnerte sich an nichts, aber es
    musste ihm aus der Hand ins strömende Wasser gefallen sein. Es
    war unwichtig. Er fühlte sich ruhig und gefasst. Als er wieder
    oben war, drückte er dem dankbaren Ausspüler einen Shilling in
    die Hand und ging langsam nach Hause. Erst sehr viel später fiel
    ihm ein, dass er die Arme baden musste. Er tat es rasch, fast ohne
    richtig hinzusehen, und betupfte die Wunden mit Jod. Als er je-
    doch den Wattebausch wegnahm und einen flüchtigen Blick auf
    die gelb gefärbte Haut warf, war es nicht das Antiseptikum, das
    ihm den Atem raubte. Er musste mehrmals blinzeln und den
    Kopf schütteln, um Klarheit zu gewinnen, aber das Bild vor
    seinen Augen verschwand nicht. Unverkennbar, die schräg auf-

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    und abwärts verlaufenden Schnitte auf seinem Arm ergaben ein
    präzises Muster. Hastig wusch und verband er sich den Arm.
    Er würde ihn nicht wieder ansehen. Er würde nicht mehr daran
    denken. Es hatte nichts zu bedeuten. Die Schnitte liefen an den
    Endpunkten einfach nur zusammen, mehr nicht. Es war reiner
    Zufall, dass er sich nicht parallel verlaufende oder kreuzende
    Linien, sondern tief und deutlich den Buchstaben »W« in die
    Haut geritzt hatte.

    Es vergingen zwei weitere Wochen, bevor die mörderische Hitze
    endlich nachließ. Doch bis dahin hatte sie der sanitären Verwal-
    tung der Hauptstadt einen ähnlichen Ruf eingetragen wie der
    Aufstand in Bengalen ein Jahr zuvor der britischen Verwaltung
    Indiens. Die Zeitungen nannten es einfach nur noch »Der Gro-
    ße Gestank«. Tag um Tag, Woche um Woche hatte der Hades-
    strom der Themse in der erbarmungslosen Sonne gebrodelt
    und seine giftigen Ausdünstungen auf direktem Weg in das
    Unterhaus geschickt. Man behauptete, wer diesen Brechreiz
    verursachenden Geruch einatmete, werde ihn sein Leben lang
    nicht wieder vergessen. Die zur Themseseite liegenden Fenster
    des Parlaments wurden mit Tüchern verhängt, die mit einer
    Chlorkalklösung getränkt waren, aber gegen den bösartigen
    Geruch vermochte es nichts auszurichten. Der Gestank drang
    durch die Mörtelritzen und die bemalten Holzvertäfelungen
    und stieg durch die Keller nach oben. Jemand hatte gesehen,
    wie der Innenminister aus dem Parlament eilte, die Wangen
    bleicher als das Taschentuch, das er vor den Mund gepresst
    hielt. Das Parlament konnte den miserablen Zustand des städ-
    tischen Abwassernetzes nicht länger ignorieren. Noch in der
    Woche vor der Sommerpause wurden Bazalgettes Vorschläge in
    vollem Umfang genehmigt. Seine Behörde erhielt alle Befug-
    nisse, um unverzüglich zur Tat zu schreiten. Und was das Wich-

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    tigste war: Das Parlament genehmigte drei Millionen Pfund, die
    innerhalb der nächsten vierzig Jahre durch eine sämtlichen Be-
    wohnern Londons auferlegte Sondersteuer wieder hereingeholt
    werden sollten.
    London würde nie mehr sein wie zuvor.

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VIII

    N ach diesem schrecklichen Sommer änderte sich in den Tun-
    neln alles, allerdings nicht gerade zum Besseren. Eine Zeit lang,
    als die Hitze noch wie eine schmutzige Decke über der Stadt hing,
    herrschte eine gespenstische Ruhe. Die Menschen waren ange-
    spannt, erschöpft, gequält von Durst und der Angst vor der Cho-
    lera. Erwachsene Männer brachen auf der Straße zusammen,
    unfähig, einen Schritt weiterzugehen. Gesunde Kinder erkrank-
    ten plötzlich und starben. Tagelang gab es kein Wasser, obwohl
    für alle Fälle die Schwengel pumpe ununterbrochen entriegelt
    blieb. Und über allem lag der üble Fäkaliengestank des Flusses,
    den man so wenig abschütteln konnte wie Läuse. Er schlüpfte
    durch alle Hemdfasern und drang durch die Poren der Haut. Er
    setzte sich in

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