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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Cholera, deren Gifthauch sich über der Stadt verdichtete wie
    Novembernebel. Wer konnte, war längst aus London geflüchtet.
    Auf Pollys neuem Kleid zeichneten sich unter den Achseln
    dunkle Flecken ab, und am Hals hatte sie eine wunde Stelle, weil
    der Kragen scheuerte. Sie rieb mit den aufgedunsenen Fingern
    darüber. Das Kleid hatte mehr gekostet, als sie sich eigentlich
    leisten konnten, aber sie war ja jetzt eine achtbare Frau. Sie
    konnte einfach nicht mehr dieselben Sachen tragen wie während
    ihrer Zeit als Dienstmädchen. Außerdem hatte sie dem hüb-
    schen gestreiften Stoff nicht widerstehen können. Sie strich ihn
    liebevoll glatt.
    Aus dem oberen Stock hörte sie ein leises Wimmern, als sich
    der kleine William im Schlaf hin und her wälzte, auf der Suche
    nach einem kühlen Fleckchen auf dem Laken.

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    »Unser kleines Engelchen hat immer noch Bauchweh«, sagte
    Polly und lauschte, den Kopf leicht geneigt. »Godfrey̕s Cor-
    dial, dieses Laudanum-Präparat, hat bei George immer gewirkt,
    besonders wenn ich ein wenig Mohnpulver daruntergemischt
    habe, aber unser Kleiner mag es einfach nicht.«
    Ihr Mann schwieg. Die Schwüle lastete auf dem Raum. So-
    gar die weiß getünchten Wände schwitzten, es hatten sich bereits
    feuchte Flecken gebildet. Als er endlich den Mund aufmachte,
    sprach er so leise, dass Polly es nicht verstand.
    »Dianthus barbatus.«
    Polly beugte sich ihm entgegen. »Was hast du gesagt, Liebs-
    ter?«
    »Dianthus barbatus.« Er ließ die Worte langsam auf der Zunge
    zergehen. Dann hob er den Kopf und sah sie an. »Sweet William.«
    Für einen kurzen Moment sah Polly ihn mit ihren großen ka-
    ra
    b
    mellfar enen
    a
    Augen n. »Du hast es nachgeschlagen!«
    »Ja.«
    »Sweet William. Du hast es nachgeschlagen!« Ein Lächeln er-
    strahlte auf ihrem Gesicht und wärmte ihr das Herz. Sie hatte
    die Hoffnung schon aufgegeben, dass er den Namen jemals in
    seinen Botanikbüchern suchen würde. Die abgegriffenen Leder-
    bände standen unangetastet ganz oben im Regal, mit einer di-
    cken Staubschicht bedeckt. Wie dumm war sie doch gewesen zu
    glauben, dass er es vergessen hatte! Die Arbeit für die Baube-
    hörde hatte ihn vollends in Anspruch genommen, das war alles.
    Und außerdem hatte es damit überhaupt keine Eile gehabt. Der
    kleine William wurde im kommenden Februar drei Jahre alt.
    Wenn er alt genug war, dass man ihm erzählen konnte, wie sein
    Papa darauf bestanden hatte, ihnen beiden, seinen entzücken-
    den Blumen, den wissenschaftlichen Namen zu geben, musste
    man ihm ja nicht verraten, dass er mit dem seines Söhnchens et-
    was spät dran gewesen war.

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    »Den ganzen Namen kann ich mir unmöglich merken«, er-
    klärte sie überglücklich und ließ den Kopf zurücksinken. Der
    Schweiß rann ihr den

    Hals hinunter. »Ich werde ihn einfach Di
    nennen «
    .
    »Di genügt vollkommen.«
    Noch immer lächelnd strich Polly über ihr seidiges Kleid und
    schloss die Augen. William schob seinen Teller beiseite und be-
    trachtete nachdenklich seine Frau. Ihr gerötetes Gesicht glänzte,
    und ihr kastanienbraunes Haar war an der Stirn dunkel wie Ma-
    hagoni. Es war unerträglich heiß. Ohne ein Wort nahm er einen
    alten Strohhut, der neben der Tür aufgehängt war, und fächelte
    ihr damit Luft zu. Sie berührte ihn am Arm, murmelte etwas
    und legte den Kopf in den Nacken, um den kühlenden Luft-
    hauch zu genießen. Ihre geschlossenen Lider waren fahl wie
    Austern und mit feinen blauen und violetten Äderchen überzo-
    gen. Er fächelte ihr so lange zu, bis ihr Kopf wegsank und sie leise
    zu schnarchen begann. Dann nahm er seine botanischen Skiz-
    zenbücher und setzte sich damit auf die Türschwelle hinter dem
    Haus.
    Der inzwischen tiefblaue Himmel war von rosa- und goldfar-
    benen Spitzenbändern durchzogen, die von der Silhouette der
    hoch aufragenden dunklen Schornsteine zerteilt wurden. Zwi-
    schen der Hausschwelle und dem ein wenig abseits liegenden
    Abort erstreckte sich der Hof. Der Erdboden war von der Sonne
    festgebacken und von Unkraut überwuchert – hauptsächlich von
    Schöterich und Labkraut, die im Spätfrühling geblüht hatten,
    jetzt aber verdorrt und ausgebleicht waren. In den Ecken hatte
    sich Ruß gesammelt, der aussah wie schwarzer Schnee. William
    zeichnete mit einem Stock ein Liniengitter in den Staub. Aus
    diesem gelblichen Londoner Lehm stellte man die zumeist sand-
    farbenen Backsteine her, deren schwarze Tupfer dadurch ent-
    standen, dass sich die

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