Der Vermesser
Haar und Bart fest, nahm jeden Zoll des Körpers in
Besitz, bohrte sich in Ohren, Augen und Nase, so dass man ihn
unaufhörlich mit sich herumtrug, ohne ihn je loszuwerden. Vie-
len Leuten blieb nichts anderes übrig, als aus dem Fluss zu trin-
ken, e
w il sonst kein Wasser vorhanden war. Es regnete keinen
Tropfen.
Tom und Joe nahmen Lady fast jeden Tag mit in die Tunnel.
Dort unten war es zwar auch nicht viel kühler, aber zumindest
konnte man atmen, ohne dass einem der Gestank das Frühstück
wieder hochkommen ließ. Über dem vertrauten Fäulnisgeruch
des Wassers hinweg roch die Luft angenehm nach feuchtem
Mauerwerk und Dunkelheit. Die Ratten waren von der Hitze
ganz irre und ließen sich wie kleine Kinder in die Käfige dirigie-
ren, aber im Badger liefen die Geschäfte mau. Eine Weile schloss
121
Brassey den Laden sogar ganz; das Wetter, so meinte er, habe so-
wohl den Männern als auch den Hunden die Lust am Töte
n ver-
gällt.
Die Ratten, die sie nicht verkaufen konnten, überließ Tom
Lady. Die Hitze schien ihr nichts auszumachen. Sie ging wie im-
mer systematisch vor und lernte schnell. In jenem Sommer
brachte Tom ihr alles bei, was er wusste. Er zeigte ihr, an welcher
Stelle hinter dem Kopf sie die Ratte packen musste, damit sich
ihre Zähne durch die Kehle der Ratte bohrten und sie sie mit
einem einzigen Biss töten konnte. Er lehrte sie, beim Loslassen
den Kopf so zu schütteln, dass die tote Ratte ein Stück weit
weggeschleudert wurde und nicht mehr im Weg war. Sämtliche
einschlägigen Tricks. Und jeden Abend wusch er ihr das Maul
mit Pfefferminzwasser aus, damit sich kein Geschwür bildete,
und fütterte sie mit milchgetränktem Fleisch zur Stärkung ihrer
Muskeln. Während Toms Hand auf ihrem Kopf ruhte, lag sie auf
seinen Beinen und hechelte, die Zunge so rosa wie die Augen.
Wenn er sie zum Schlafen aufs Bett legte, war seine Hose feucht
von ihrer Wärme.
Schließlich, als die Tage kürzer wurden, kam endlich der Re-
gen. Als die Tropfen auf die braune Brühe des Flusses nieder-
prasselten, strömten die Menschen aus ihren engen Gassen und
Höfen auf die schlammigen Straßen. Bösartig wie die Ratten wa-
ren sie, kratzten, balgten und stießen sich und wussten dabei
nicht einmal, wohin sie wollten, dennoch konnte nichts sie da-
von abhalten, draußen herumzulaufen. In den Abwasserkanä-
len ging es fast ebenso geschäftig zu. Tom traute seinen Augen
kaum. Der Regen hatte sie noch eine Weile fern gehalten; bei die-
sen heftigen Güssen konnte man unmöglich hinuntersteigen.
Aber sobald die Fluten zurückgingen, waren plötzlich alle mög-
lichen Menschen dort unten zugange, Tag und Nacht. Holzver-
schläge mit Dächern aus Ölzeug wuchsen über Gitterrosten und
122
Schachtdeckeln empor. Oft fing Tom das Echo menschlicher
Stimmen auf und musste sich in die Dunkelheit zurückziehen
oder einen anderen Weg einschlagen. Auch konnte man sich
nicht mehr darauf verlassen, dass einem die Ausspüler aus der
Patsche halfen. Früher wussten die Ausspüler genau, auf welcher
Seite sie standen; da kamen sie und die Kanaljäger noch einiger-
maßen gut miteinander aus. Einer der alten Vorarbeiter drüben
in Bermondsey war als junger Bursche sogar selbst einmal Ka-
naljäger gewesen. Erst als sein Alter Herr starb und das Geschäft
nicht mehr so gut lief, wechselte er, verlockt von einem festen
Einkommen, zu den Ausspülern. Im Grunde genommen waren
sie beide gar nicht so verschieden, dachte Tom, denn beide ver-
dienten sich ihren Lebensunterhalt damit, dass sie die Tunnel
kannten wie ihre Westentasche und herausholten, was darin ste-
cken blieb; und weil sie keine Konkurrenten waren, gab es auch
keinen Grund, sich gegenseitig Ärger zu machen. So wie die Aus-
spüler den Kanaljägern halfen, indem sie dafür sorgten, dass die
Tunnel nicht verstopften oder einstürzten, halfen umgekehrt
diese auch ihnen, indem sie den Abfall beseitigten und die Zahl
der Ratten in Grenzen hielten. Klar, die Reinigung der Abwas-
serkanäle hatte den Vorzug, eine legale Tätigkeit zu sein, an-
dererseits gehörten die Ausspüler gewiss nicht zu der Sorte, die
besonders gesetzestreu waren. Wenn es darum ging, sich zu ent-
scheiden, ob man sich auf die Seite eines Kanaljägers oder die
eines Polypen stellte, wusste ein vernünftiger Ausspüler, was er
tun musste.
Bis jetzt. Etwas von der feinen Gesellschaft, mit der die Aus-
spüler neuerdings Umgang pflegten,
Weitere Kostenlose Bücher