Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
Stöhnen. Die dicke schwarze Flut
    wirbelte um ihn herum, stand ihm schon fast bis an die Ober-
    schenkel. Er zerrte ungeduldig an seinem Jackenärmel. Verwe-
    sungsgestank hüllte ihn ein, Todesgestank. Nun konnte er sie er-
    kennen, verstreut entlang des grauen Ufers, die verschrumpelten
    Körper seiner Kriegskameraden, schwarz wie Ruß. Von irgend-
    woher war Kanonendonner zu hören, gedämpft durch den
    Schnee oder die Entfernung. In der Dunkelheit flammten feurige
    Blitze auf. Sein Arm schrie nach der Klinge, doch die Angst war
    stärker, sie saugte seine Füße in den dicken Schlamm des Schüt-
    zengrabens. Heute Nacht würde es keine Ablösung geben, keine

    167
    Morgendämmerung, die ihn zurückrufen würde. Der Feind
    hatte ihn umzingelt, kam näher und näher, kroch unerbittlich
    und tausendfach auf ihn zu wie ein verklumpter grauer Pflug,
    unhörbar im Schnee. Sie kamen von links und von rechts, schli-
    chen sich von hinten heran und von vorn, ihre grauen Arme
    streckten sich aus dem Nebel über ihm aus, ihre Bajonette sta-
    chen von unten durch die Erde auf ihn ein. Sie alle hatten nur
    ihn im Visier, enger zog sich der Kreis, immer enger. Es waren
    jetzt ganze Kolonnen, die näher und näher rückten. Ihre Zahl
    nahm kein Ende. William drückte sich noch tiefer in seine Mau-
    ernische, den Messerknauf umschlungen wie ein kleines Kind.
    Sein Atem kam in hastigen Stößen. Er konnte sich nicht mehr
    bewegen.
    Jetzt waren sie über ihm. William hörte ihr Stöhnen, den
    feuchten Sog ihres Atems. Sie waren seinetwegen gekommen,
    mit gezückten Bajonetten. Er sah, wie sie unbarmherzig vor-
    wärts rückten und ihre Klingen wieder und wieder in das dicke
    Fleisch der Nacht rammten. William würde sterben, hier in die-
    ser brutalen Hölle aus Schlamm und Eis. Seinen Leichnam
    würde man mit tausend anderen in eine Grube werfen, und der
    Schlamm würde ihm den Mund füllen und sich auf die aufge-
    rissenen Augen pressen. Die Angst würgte ihn, wühlte in den
    Eingeweiden und bohrte sich in das Fleisch zwischen seinen
    Rippen. Er wollte nicht sterben. Er durfte nicht sterben. Seine
    Hände umklammerten den Messerknauf. Ohne seine Haut zu
    ritzen, ließ er die Klinge ganz vorsichtig über den Hals und die
    entblößten Arme gleiten. Die Russen stolperten durch die Nacht.
    Sie waren jetzt nah, ganz nah. Jemand schrie auf, ein tiefer gur-
    gelnder Laut, wie wenn Wasser in einen Abfluss gesogen wird.
    Williams Angst schoss krachend in die Klinge und ließ sie auf-
    blitzen. Mit einem Mal war sein Kopf von heißem, schwarzem
    Blut überschwemmt. Er stürzte aus seinem Versteck und stach

    168
    blindlings um sich. Er war nicht mehr allein. Noch jemand be-
    fand sich hier in der Dunkelheit. Die Luft war erfüllt vom Stöh-
    nen des Feindes, als die niedergemetzelten Männer zuhauf in
    den Strom fielen und das Wasser in der finsteren Nacht silbrig
    aufspritzte. Sie stürzten übereinander, ihr Blut bildete schwarze
    Pfützen auf dem schmutzigen Grau ihrer Mäntel. Einer war jetzt
    ganz nah. William drückte sich wieder in seine Mauernische. Er
    sah ihn nur für einen Augenblick, das Gesicht ein blasser Mond
    im fahlen Schein seiner Lampe, als er etwas in einen Spalt zwi-
    schen den Sandsäcken presste, die den Schützengraben säumten.
    Aber William kannte ihn. Die Wachablösung. Der Soldat sagte
    kein Wort, sondern wandte sich ab und lief den Graben entlang
    auf den Wachposten zu. William war gerettet. Von hinten war
    ein langes, grässliches Stöhnen zu hören, als das Leben aus dem
    Körper eines Mannes rann wie Sand. Verzückt und mit geschlos-
    senen Augen hob William das Messer und stieß die Klinge wie-
    der und wieder in den Haufen Leichen vor ihm. Der stumme
    Schrei des Schmerzes in seinem Arm war ein Schrei des vollkom-
    menen Sieges.
    Schließlich ebbte der Tumult in Williams Kopf ab wie ein sich
    selbst verzehrender Wirbelsturm. Zeit war vergangen. Dunkles,
    lauwarmes Blut gerann in seiner Hand. Aber er empfand nicht
    den Frieden, der sich sonst immer eingestellt hatte, sondern
    fühlte sich angeekelt, benommen, verwirrt. Zu vieles stimmte
    hier nicht. Er befand sich in den Abwasserkanälen, er hielt ein
    Messer in der Hand, und sein Arm pochte. Diese Dinge waren
    ihm vertraut. Auch dass das wache Bewusstsein ausgeschaltet
    war, kannte er, aber nicht in dem Maße, wie es jetzt gewesen war.
    Schon früher war ihm die Zeit entglitten, manchmal waren es
    Stunden, an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Doch

Weitere Kostenlose Bücher