Der Vermesser
Stöhnen. Die dicke schwarze Flut
wirbelte um ihn herum, stand ihm schon fast bis an die Ober-
schenkel. Er zerrte ungeduldig an seinem Jackenärmel. Verwe-
sungsgestank hüllte ihn ein, Todesgestank. Nun konnte er sie er-
kennen, verstreut entlang des grauen Ufers, die verschrumpelten
Körper seiner Kriegskameraden, schwarz wie Ruß. Von irgend-
woher war Kanonendonner zu hören, gedämpft durch den
Schnee oder die Entfernung. In der Dunkelheit flammten feurige
Blitze auf. Sein Arm schrie nach der Klinge, doch die Angst war
stärker, sie saugte seine Füße in den dicken Schlamm des Schüt-
zengrabens. Heute Nacht würde es keine Ablösung geben, keine
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Morgendämmerung, die ihn zurückrufen würde. Der Feind
hatte ihn umzingelt, kam näher und näher, kroch unerbittlich
und tausendfach auf ihn zu wie ein verklumpter grauer Pflug,
unhörbar im Schnee. Sie kamen von links und von rechts, schli-
chen sich von hinten heran und von vorn, ihre grauen Arme
streckten sich aus dem Nebel über ihm aus, ihre Bajonette sta-
chen von unten durch die Erde auf ihn ein. Sie alle hatten nur
ihn im Visier, enger zog sich der Kreis, immer enger. Es waren
jetzt ganze Kolonnen, die näher und näher rückten. Ihre Zahl
nahm kein Ende. William drückte sich noch tiefer in seine Mau-
ernische, den Messerknauf umschlungen wie ein kleines Kind.
Sein Atem kam in hastigen Stößen. Er konnte sich nicht mehr
bewegen.
Jetzt waren sie über ihm. William hörte ihr Stöhnen, den
feuchten Sog ihres Atems. Sie waren seinetwegen gekommen,
mit gezückten Bajonetten. Er sah, wie sie unbarmherzig vor-
wärts rückten und ihre Klingen wieder und wieder in das dicke
Fleisch der Nacht rammten. William würde sterben, hier in die-
ser brutalen Hölle aus Schlamm und Eis. Seinen Leichnam
würde man mit tausend anderen in eine Grube werfen, und der
Schlamm würde ihm den Mund füllen und sich auf die aufge-
rissenen Augen pressen. Die Angst würgte ihn, wühlte in den
Eingeweiden und bohrte sich in das Fleisch zwischen seinen
Rippen. Er wollte nicht sterben. Er durfte nicht sterben. Seine
Hände umklammerten den Messerknauf. Ohne seine Haut zu
ritzen, ließ er die Klinge ganz vorsichtig über den Hals und die
entblößten Arme gleiten. Die Russen stolperten durch die Nacht.
Sie waren jetzt nah, ganz nah. Jemand schrie auf, ein tiefer gur-
gelnder Laut, wie wenn Wasser in einen Abfluss gesogen wird.
Williams Angst schoss krachend in die Klinge und ließ sie auf-
blitzen. Mit einem Mal war sein Kopf von heißem, schwarzem
Blut überschwemmt. Er stürzte aus seinem Versteck und stach
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blindlings um sich. Er war nicht mehr allein. Noch jemand be-
fand sich hier in der Dunkelheit. Die Luft war erfüllt vom Stöh-
nen des Feindes, als die niedergemetzelten Männer zuhauf in
den Strom fielen und das Wasser in der finsteren Nacht silbrig
aufspritzte. Sie stürzten übereinander, ihr Blut bildete schwarze
Pfützen auf dem schmutzigen Grau ihrer Mäntel. Einer war jetzt
ganz nah. William drückte sich wieder in seine Mauernische. Er
sah ihn nur für einen Augenblick, das Gesicht ein blasser Mond
im fahlen Schein seiner Lampe, als er etwas in einen Spalt zwi-
schen den Sandsäcken presste, die den Schützengraben säumten.
Aber William kannte ihn. Die Wachablösung. Der Soldat sagte
kein Wort, sondern wandte sich ab und lief den Graben entlang
auf den Wachposten zu. William war gerettet. Von hinten war
ein langes, grässliches Stöhnen zu hören, als das Leben aus dem
Körper eines Mannes rann wie Sand. Verzückt und mit geschlos-
senen Augen hob William das Messer und stieß die Klinge wie-
der und wieder in den Haufen Leichen vor ihm. Der stumme
Schrei des Schmerzes in seinem Arm war ein Schrei des vollkom-
menen Sieges.
Schließlich ebbte der Tumult in Williams Kopf ab wie ein sich
selbst verzehrender Wirbelsturm. Zeit war vergangen. Dunkles,
lauwarmes Blut gerann in seiner Hand. Aber er empfand nicht
den Frieden, der sich sonst immer eingestellt hatte, sondern
fühlte sich angeekelt, benommen, verwirrt. Zu vieles stimmte
hier nicht. Er befand sich in den Abwasserkanälen, er hielt ein
Messer in der Hand, und sein Arm pochte. Diese Dinge waren
ihm vertraut. Auch dass das wache Bewusstsein ausgeschaltet
war, kannte er, aber nicht in dem Maße, wie es jetzt gewesen war.
Schon früher war ihm die Zeit entglitten, manchmal waren es
Stunden, an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Doch
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