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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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dies-
    mal hatte er sich auf eine Weise verloren, die er sich nicht im Ge-
    ringsten erklären konnte. Er zitterte am ganzen Leib, halb erfro-

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    ren. Er trug nicht seine Kanalmontur, sondern seinen besten
    Anzug. Er hatte kein Licht. Das Wasser stand ihm bis zu den
    Oberschenkeln, und die Strömung war so stark, dass er die Füße
    fest aufsetzen musste, um nicht mitgerissen zu werden. Doch am
    meisten beunruhigte ihn die schreckliche Gewissheit, dass er
    nicht allein gewesen war. Er musste hinaus.
    Er steckte das Messer tief in die Hosentasche und stolperte los,
    nach oben, dem Ausgang zu, gegen die steigende Flut ankämp-
    fend. Er ging, so schnell er konnte, aber die Dunkelheit war un-
    durchdringlich wie Mantelfutter. Vergeblich schüttelte er den
    Kopf, um die seltsamen, beunruhigenden Bilder loszuwerden,
    die unter seiner Schädeldecke kratzten wie die Reste eines
    Traums. Seine Füße schrien auf vor Schmerz, als er sie an einem
    dürftigen Torffeuer auftaute, und nur mühsam hielten seine
    Finger den Bleistift, mit dem er sich ins Wachbuch eintrug. Das
    Licht der Augustsonne wärmte ihm den Hinterkopf, während er
    mit dem Pinsel die zarten violetten Adern des blassen Leinkrauts
    nachmalte. Der bogenförmige Spritzer Blut auf dem Segeltuch,
    als die Klinge eines Bajonetts durch eine Zeltwand stieß. Die
    bröckelnden Tunnelwände, die ihn bei lebendigem Leib zu be-
    graben drohten. Hawkes gefährlich funkelnde Stimme, die die
    Dunkelheit durchschnitt. Und durch dies alles hindurch die
    Wachablösung, Schutzengel und Todesbote zugleich, warm und
    gespenstisch wie Atemhauch in winterlicher Dunkelheit.
    Am oberen Ende der Schräge, wo er sich stets hatte wieder
    aufrichten können, war die Decke immer noch so niedrig, dass
    er dagegenstieß. Vielleicht hatte die steigende Flut den Lauf des
    Wassers verändert. Er kämpfte sich vorwärts. Es war jetzt nicht
    mehr weit. Seiner Schätzung nach befand sich das Gitter in
    einem breiten Tunnel zu seiner Rechten. Er tastete nach dem Bo-
    gengang, unterdrückte den Ekel, den er bei der Berührung der
    schleimigen Pilze empfand, die auf dem Mauerwerk wucherten,

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    aber die Wand war undurchdringlich und nicht der mindeste
    Lichtschimmer zu sehen. Der Tunnel kam ihm enger vor als in
    seiner Erinnerung, aber schließlich verzerrte die Dunkelheit die
    Wahrnehmung und trieb mit der Empfindung von Zeit und
    Raum ein tückisches Spiel. Gewiss waren es nur noch ein paar
    Meter bis zum Ende des Kanals. Er biss sich auf die Lippen und
    tappte weiter.
    Mit einem Mal bog der Kanal scharf nach rechts ab. William
    konnte sich an keine Biegung erinnern. Hatte er die Abzweigung
    verpasst? Er hatte geglaubt, in diesem Kanalabschnitt ohne wei-
    teres aufrecht stehen zu können, aber die Tunneldecke senkte
    sich immer weiter herab. Mit seitlich ausgestreckten Armen
    konnte er beide Wände gleichzeitig berühren. Auch da stimmte
    etwas nicht. Selbst die Körnung des Bodens unter seinen Füßen
    fühlte sich ungewohnt an. Der Schlamm war tiefer als geglaubt
    und von scharfkantigen Steinen durchsetzt. Es fiel ihm schwer,
    nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Um nicht umgerissen zu
    werden, musste er sich der Strömung entgegenstemmen. Als er
    den Kopf senkte, drang ihm ein Hauch von gefrorenem Unrat in
    Nase und Mund. Der Gestank von Exkrementen und verfaultem
    Tang war unerträglich. Er spürte, wie die Panik ihn zu würgen
    begann.
    Die Flut stieg immer schneller, dessen war er sicher. Er musste
    hinaus, bevor ihn das Wasser mitriss und ihm die Lungen mit
    dem endlosen Strom der Ausscheidungen dieser Stadt füllte. Er
    musste stromaufwärts gehen, weg von den Schleusentoren am
    Fluss, wo das Wasser mit Wucht durch die Eisengitter strömte
    und ihn zermalmen würde. So schob er sich immer tiefer in die
    Dunkelheit hinein. Sein Fuß stieß gegen eine Wand. Er tastete
    nach ihr. Backstein. Fester Backstein. Das Ende des Tunnels. Er
    saß in der Falle. Verzweifelt machte er kehrt und kämpfte sich
    den Weg zurück, den er gekommen war. Seine Beine waren wie

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    Bleigewichte, erschöpft von der Mühsal, ihn durchs Wasser zu
    schieben. Das Tunnellabyrinth verzweigte sich, beschrieb Kur-
    ven, fiel nach unten ab, und William taumelte verzweifelt umher,
    getrieben nur noch von dem Instinkt, endlich Licht zu sehen.
    Aber es kam kein Licht, kein Ausgang. Die Tunnel verengten sich,
    überall um ihn bröckelten die Wände, ihr Verlauf war trügerisch.
    William verlor den Halt; vom

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