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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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stinkenden Strom mitgerissen,
    rappelte er sich mühsam wieder hoch und stapfte vorwärts. Das
    Messer in seiner Tasche schnitt ihm ins Bein. Er schrammte sich
    die Knöchel auf, die Stirn, stieß sich an Schultern und Knien. Wie
    aus weiter Ferne hörte er den Widerhall seiner eigenen Stimme,
    fremd und aufgeregt, üble Verwünschungen und zärtliche Worte
    ausstoßend. Er betete, schrie in die Dunkelheit hinein, flehte zu
    Gott, ihm den Glauben wiederzugeben, und verwünschte ihn
    zugleich, weil er ihn verlassen hatte. Und immer noch narrten
    ihn die Tunnel, zogen ihn tiefer und tiefer ins Erdinnere, bis das
    ganze erstickende Gewicht der Metropole auf ihm lasten und ihn
    bei lebendigem Leib begraben würde. Und immer noch stieg die
    Flut. Die Dunkelheit war erfüllt von dumpfen Schlägen und de-
    ren Widerhall. Die Mächte der Hölle, ausgeschickt, um ihn in
    Empfang zu nehmen. Sie waren ihm dicht auf den Fersen. Er
    konnte nicht mehr. Seine Kräfte waren erschöpft.
    Die Flut reichte ihm fast bis zur Hüfte. William taumelte wei-
    ter, die Hände wild fuchtelnde Paddel im schmutzigen Strom. Er
    kam kaum mehr von der Stelle. Die Kälte war ihm ins Innerste
    seines Körpers gedrungen. Er zitterte am ganzen Leib. Mit jedem
    Schritt verschwamm der Tunnel zu einem Schützengraben und
    der Schützengraben zu einem Tunnel. Er war müde. So müde.
    Wenn er nur bis zur nächsten Wache durchhalten könnte, bis
    zum Gitter, bis die Ablösung eintraf. Er war so müde. Nur noch
    mit äußerster Anstrengung konnte er die Beine bewegen. Doch
    was war da vor ihm? – er riss die Augen auf. Die Dunkelheit

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    wich. An den Rändern der Nacht zeigten sich die ersten blassen
    Filamente des Tages. Zurück im Lager, gäbe es frischen, grünen
    Kaffee, wenn er noch die Kraft fand, ihn zu rösten. Wenn genü-
    gend Holz für ein Feuer vorhanden war. Wenn er es nur schaffte
    weiterzugehen. Er musste einfach weitergehen. Ein Soldat darf
    niemals seinen Posten verlassen. Da stieß sein Fuß gegen einen
    Stein, so dass er stolperte und bäuchlings in einen Haufen Sand-
    säcke fiel, wie es schien. Er hatte keine Kraft mehr, wieder aufzu-
    stehen. Aber das Licht war heller. Die Sonne – oder war es der
    Mond? – stand über ihm, rund, weiß und blendend. Der Anblick
    tat ihm in den Augen weh. Und neben diesem Licht, so hell, als
    sei er selbst aus Licht gemacht, die Gestalt eines Mannes. Eines
    aus Licht geschaffenen Mannes. Der allmächtige Gott, Schöpfer
    des Himmels und der Erde. Vergib uns unsere Schuld. Neben
    ihm ein kleiner, weißer Hund. Mit einem purpurroten Maul und
    Zähnen, scharf wie Messer. William spürte, wie ihn das Entset-
    zen packte. Das Licht war ein Trick, ein Leuchtfeuer, das ihn in
    die Flammen der ewigen Verdammnis locken sollte. Gott, mein
    Gott, warum hast du mich verlassen?
    Und dann blickte er in das Gesicht des Mannes.
    »Mr. Rawlinson?«
    Robert Rawlinson schien den schmutzigen Strom um ihn he-
    rum überhaupt nicht wahrzunehmen. Sein Hut glänzte, sein ge-
    stärkter Kragen war steif und a
    m kellos weiß. Auch der Hund war
    weiß, weiß wie frischer Schnee von der Krim.
    »Mr. May«, fragte Rawlinson ernst. »Möchten Sie denn ster-
    ben?«
    William sah ihn an, geblendet vom Licht. Vor Erleichterung
    hätte er am liebsten geweint. »Ist ... ist das die Morgendämme-
    rung?«
    Rawlinson betrachtete ihn nachdenklich. Schließlich packte
    er William unter den Achseln und hievte ihn auf die Beine. Er

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    war stark. Er sprach zu William, obgleich sich die Worte im Rau-
    schen des Wassers verloren. Dann legte er sich Williams Arm um
    den Nacken und trug ihn halb durch den wogenden Strom des
    voll
    l
    ge

    aufenen Schützengrabens. William ließ den Kopf auf
    Rawlinsons Schulter sinken.
    »Wir müssen sie begraben«, flüsterte William. »Die Leichen.
    Wir müssen zurück und sie begraben.«
    »Still jetzt«, sagte Rawlinson sanft. William schwieg, die Hand
    um den beruhigenden Knauf des Messers in seiner Tasche gelegt.
    Ihm fehlte die Kraft für weitere Fragen. Er nahm kaum wahr, wie
    Rawlinson ihn nach oben schleppte und auf die blanke Erde
    legte. War er in seinem Zelt? Vielleicht. Er war nicht mehr im
    Fluss, das wusste er, aber dieses Wissen lag wie in weiter Ferne
    und bot keine Erleichterung. Angeschoben von Rawlinsons
    Hand zwischen seinen Schulterblättern, stolperte er ein paar
    Schritte weiter. Die Luft war jetzt anders. Der Wind blies so kalt
    durch seine durchnässte Kleidung, dass er heftig

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