Der Vermesser
konnte einen Schnitt dieser
Art nicht verursachen. Man musste schon das Messer in die
Faust nehmen und mit der Spitze ins Fleisch stoßen, wieder und
immer wieder ...
William erbrach sich auf den Fußboden, so dass sich Spritzer
in dem Rohrgeflecht des Nähkorbs verfingen. In seinem Magen
war nur ein Schluck Wasser, aber er würgte und würgte. Sein
Unterleib krampfte sich zusammen, in seinem Mund war bitte-
rer Gallengeschmack. Als er Polly erneut auf der Treppe hörte,
wagte er nicht aufzublicken. Vielmehr streckte er den verletzten
Arm aus, die Finger gespreizt in verzweifeltem Flehen. Der blut-
befleckte Verband lag achtlos hingeworfen auf der Bettdecke.
Auf der Türschwelle blieb Polly abrupt stehen und schnapp-
te keuchend nach Luft. Ihre weiten Röcke verdunkelten den
Rahmen.
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»Di, geh wieder runter.«
Erschrocken über ihren scharfen Ton, gehorchte der Kleine
ohne Widerrede. William und Polly lauschten dem dumpfen
Schlag, als er die letzten Treppenstufen in den engen Flur hinun-
tersprang. Dann schloss Polly
die Tür n
u d goss Wasser in die
Schüssel auf dem Waschtisch.
»Was um Himmels willen hast du da angestellt?«, schimpfte
sie, griff nach dem Verband und wickelte ihn so fest um Wil-
liams Arm, dass seine Fingerspitzen anfingen zu kribbeln. Als sie
fertig war, ging sie neben dem Bett in die Hocke und wischte,
behindert durch ihren dicken Bauch, mit einem zusammenge-
knüllten Lappen den Boden auf. Ihr kastanienbraunes Haar war
von weißen Strähnen durchzogen, und auf der blassen Haut un-
ter ihrem Scheitel schimmerte ein rötlicher Fleck. William hielt
den Blick fest auf diese Stelle gerichtet, bemüht, nicht die Fas-
sung zu verlieren.
»Was ist passiert?«, flüsterte er.
»Du warst krank, Liebster, das ist alles. Wenn ich aufgewischt
habe, bringe ich dir eine Brühe, das beruhigt den Magen. Der
nette Mr. Mitchell hat mir gestern ein paar schöne Knochen da-
zugepackt, als er gehört hat, wie schlecht es dir geht.«
Sie wischte energisch über die Dielen, ohne ihn anzusehen.
William hatte ein ziehendes Gefühl im Magen, als würde er un-
endlich tief durch einen Einstiegsschacht fallen.
»Aber vorh r«,
e
fragte er. »Als ich ...? Ich ... ich liege wohl
schon eine ganze Weile hier im Bett?«
»Es ist dir sehr schlecht gegangen«, sagte Polly munter und
tauchte den Lappen in die Schüssel. »Du hast im Fieberwahn ge-
redet und furchtbar getobt. Aber das haben wir überstanden.
Am besten, du vergisst es und konzentrierst dich darauf, wieder
gesund zu werden.«
»Aber ...?«
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»Am Dienstagmorgen haben die Konstabler dich nach Hause
gebracht, gegen fünf Uhr, glaube ich. Di ist von dem Lärm auf-
gewacht und die halbe Straße vermutlich auch, denn du hast
gebrüllt wie am Spieß.« Polly hielt inne, den ausgewrungenen
Lappen wie ein Seil in der Hand. Dann fuhr ie
s
mit neuer Ent-
schlossenheit fort, den Boden zu wischen. »Heute ist Samstag.«
Vier Tage. Er lag also schon vier Tage hier. Er beruhigte sich
ein wenig, auch wenn er nicht hätte sagen können, warum.
»Trotzdem haben wir allen Grund, dankbar zu sein«, fuhr
Polly im selben munteren Ton fort. »Wer weiß, was mit dir pas-
siert wäre, wenn sie dich nicht entdeckt hätten. Sie haben dich
halb erfroren am Fluss gefunden, mit zerrissenen Kleidern, vol-
ler Dreck, das Gesicht totenbleich. Ganz abgesehen davon, dass
man dir deine besten Steckknöpfe vom Hemd gerissen hat.«
Polly hörte auf zu wischen und schüttelte den Kopf. Sie lachte,
als hätte sie den Mund voll spitzer Nadeln. »Was um alles in der
Welt hattest du an einem so bitterkalten Abend da draußen zu
suchen, mein Schatz? Du kannst von Glück reden, dass du noch
lebst.«
»So, kann ich das?«
Irgendwie war ihm das mit einem Seufzer einfach so heraus-
gerutscht. Polly warf ihren Lappen auf den Boden und packte
William an den Handgelenken. Ihre Finger gruben sich in sein
wundes Fleisch. Ihr rosafarbener Mund war jetzt nur noch ein
harter weißer Strich, und die goldenen Sprenkel in ihren Augen
blitzten vor Zorn.
»Du hörst sofort auf damit, verstanden? Ich dulde solche Re-
den nicht, jedenfalls nicht, solange ich in diesem Haus lebe. Ich
werde nicht zulassen, dass du uns zugrunde richtest. Und wenn
du einen Pakt mit dem Teufel persönlich geschlossen hast, ich
werde jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wenn du alles daran-
setzt, dass man uns in die Gosse wirft. Was glaubst du
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