Der Verräter von Westminster
Am besten lesen Sie den Bericht selbst. Ich habe die Sache seit seinem Ausscheiden bearbeitet und bin überzeugt, dass er sie in jeder Hinsicht falsch eingeschätzt hat. Außerdem können wir es uns nicht leisten, Schottland einfach zu ignorieren.«
Pitt schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Er traute Austwick nicht, durfte ihm das aber nicht zeigen. Er hatte den Eindruck, mit dieser Sache nur Zeit zu vergeuden, von der er ohnehin zu wenig hatte.
» Was ist mit den Berichten über die Sozialisten auf dem Kontinent? «, erkundigte er sich. »Ist irgendetwas aus Deutschland gekommen? Und was ist mit den russischen Emigranten in Paris?«
»Nichts Wichtiges«, gab Austwick zurück. »Auch von Gower haben wir nicht das Geringste gehört.« Er sah Pitt mit erkennbarer Unruhe in den Augen an.
So gelassen er konnte, gab Pitt zurück: »Er wird sich vermutlich erst melden, wenn er etwas Bemerkenswertes zu berichten hat. Schließlich ist es nicht ungefährlich, von Saint Malo aus Kontakt mit Lisson Grove aufzunehmen. Immerhin geht da alles durch das örtliche Postamt.«
Austwick schüttelte den Kopf. »Offen gestanden halte ich die Sache für belanglos. Vielleicht hat man West nur deshalb umgebracht, weil die Leute dahintergekommen waren, dass er für uns arbeitete. Ich denke, dass es sich dabei um einen Racheakt gehandelt hat und der Mann uns gar nichts Wichtiges mitzuteilen hatte.«
Er veränderte seine Stellung ein wenig und sah Pitt offen an. »Sie wissen ja, dass seit Jahren Gerüchte über bedeutende
Reformen im Umlauf sind. Manche Leute schwingen große Reden, aber es geschieht nichts Ernsthaftes, jedenfalls nicht hier bei uns in England. Meiner Ansicht nach hat die größte Gefahr vor drei oder vier Jahren bestanden. Damals herrschte im Londoner East End große Unruhe. Ich nehme an, dass Ihnen das bekannt ist, auch wenn Sie erst kurz danach bei uns eingetreten sind.«
Pitt sah den Groll in den Augen des Mannes, während ihn dieser, vermutlich ganz bewusst, daran erinnerte, dass er noch nicht lange beim Sicherheitsdienst tätig war. Einen Augenblick lang fragte sich Pitt, ob gekränkte persönliche Eitelkeit dahintersteckte oder das Ganze mit der politischen Unruhe im Lande zusammenhing. Dann fiel ihm ein, wie sich Gower über den in seinem Blut am Boden liegenden West gebeugt hatte. Entweder hatte Austwick tatsächlich nichts mit der Sache zu tun, oder er verstand es, seine Empfindungen und Gedanken besser zu verbergen, als Pitt annahm. Er musste unbedingt auf der Hut sein.
»Vielleicht geht die Sache ja gut«, sagte er.
Austwick veränderte seine Stellung erneut, so, als sitze er unbequem. »Das hier sind die Berichte aus Liverpool. Sie enthalten Verweise auf die Lage in Irland. Zwar gibt es da bisher nichts Gefährliches, aber es dürfte sich empfehlen, dass wir uns einige der Namen notieren und die Leute im Auge behalten. « Er schob Pitt noch einige Papiere hin, und dieser beugte sich darüber, um sie zu lesen.
Der Nachmittag verlief wie der Vormittag, und weitere mündliche sowie schriftliche Berichte landeten auf Pitts Schreibtisch. Ein Fall von Gewalttätigkeit in einer Stadt in Yorkshire schien auf den ersten Blick einen politischen Hintergrund zu haben, doch dann erwies sich, dass nichts daran war. In London war in Piccadilly auf der Straße ein Minister ausgeraubt worden, der als geheim eingestufte Papiere mit sich geführt
hatte. Die Untersuchung des Falles kostete Pitt nicht nur den Rest des Tages, sondern auch noch einen Teil des nächsten Vormittags. Zum Glück war es nicht seine Aufgabe, darüber zu entscheiden, auf welche Weise man den Mann wegen seiner Nachlässigkeit maßregeln würde, wohl aber, welche Art von Straftat man dem Straßenräuber zur Last legen sollte.
Er ging dabei mit äußerster Sorgfalt vor, befragte den Mann persönlich, versuchte festzustellen, ob er gewusst hatte, dass es sich bei seinem Opfer um ein Kabinettsmitglied handelte, und falls ja, ob ihm bekannt gewesen war, dass sich in dessen Aktentasche unter Umständen der Geheimhaltung unterliegende Dokumente befanden. Auch nach mehreren Stunden war er seiner Sache noch nicht sicher. Er musste daran denken, dass Narraway bestimmt niemanden um Rat gefragt hätte. Wenn er einen solchen Fall nicht ohne Hilfe bearbeiten konnte, war er seinem Amt alles andere als gewachsen.
Schließlich kam er zu dem Ergebnis, dass man die Öffentlichkeit nicht wissen lassen durfte, wie einfach es war, einen
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