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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ihm stand, war erkennbar erschöpft. Obwohl nach wie vor der Ausdruck tiefer Besorgnis auf ihren Zügen lag, erschien sie ihm schön. Der allzu glatten Vollkommenheit schon lange überdrüssig, vertrat er die Ansicht, wer auf den Anblick einer vollkommenen Komposition von Farbe, Proportionen, glatter Haut und ebenmäßigen Gesichtszügen aus war, möge sich Kunstwerke ansehen, von denen es auf der
ganzen Welt eine Überfülle gab. Noch der Ärmste konnte es sich leisten, sie in Form eines billigen Drucks zu erwerben.
    Eine wirkliche Frau strahlte Wärme aus, war verletzlich, kannte Ängste und Sorgen. Natürlich hatte sie auch Schwächen – wie könnte sie sich sonst liebevoll mit denen eines Partners abfinden? Ein Mensch ohne Lebenserfahrung war ein Gefäß, das darauf wartete, gefüllt zu werden, denn es war leer, auf wie herrliche Weise auch immer es gefertigt sein mochte. Für einen Menschen voll Mut oder Leidenschaft ging Erfahrung mit einem gewissen Maß an Schmerz, begangenen Fehlern, gelegentlichen Fehleinschätzungen und dem Bewusstsein erlittener Verluste einher. Wie reizend junge Frauen eine Zeit lang auch sein mochten, sie langweilten ihn schon bald.
    Zwar war er durchaus an Einsamkeit gewöhnt, doch mitunter schmerzte ihn ihre drückende Last so sehr, dass er sich ihrer stets bewusst war. So wie in Irland und auch jetzt, da er neben Charlotte an Deck stand und sah, wie ihr der Wind das Haar aus den Haarnadeln zerrte und ins Gesicht blies.
    Sie hatte ihm bereits berichtet, was sie über Fiachra McDaid, Talulla Lawless, John Tyrone und das Geld in Erfahrung gebracht hatte. Die Dinge lagen äußerst kompliziert. Narraway hatte sich die Zusammenhänge zwar teilweise aus O’Caseys Erklärungen zusammengereimt, aber ohne zu verstehen, welche Rolle Talulla darin spielte. Sie hätte Cormac O’Neil wohl kaum Vorhaltungen gemacht, wenn ihr Fiachra McDaid nicht eingeredet hätte, ihre Eltern seien schuldlos gewesen. Natürlich hätte sie Narraway trotzdem noch mit Vorwürfen überschüttet, aber das war durchaus verständlich. Seine Schuld an Kates Tod war ebenso groß wie die irgendeines anderen, denn dieses Ende war vorhersehbar gewesen. Er hatte gewusst, was Sean für sie empfand.
    Was hätte Cormac O’Neil Talullas Ansicht nach unternehmen können, um ihren Vater, Sean O’Neil, vor dem Galgen
zu retten? Er war ein Aufrührer gewesen, den seine Frau Kate an die Engländer ausgeliefert hatte. Wie war Kates Handlungsweise einzuschätzen? Hatte es sich dabei um Verrat am Geiste Irlands gehandelt oder einfach um eine pragmatische Entscheidung, deren Ziel es gewesen war, weiteres sinnloses Blutvergießen zu vermeiden, das vielen Leuten das Herz abgedrückt hätte? Wie viele Menschen lebten noch, die damals aufgeopfert worden wären, wenn sie anders gehandelt hätte? Vermutlich die Hälfte derer, die zu Talullas Bekanntenkreis gehörten.
    Aber selbstverständlich würde Talulla das nicht so sehen, weil sie es sich nicht leisten konnte. Sie brauchte ihre Wut, und die ließ sich nur rechtfertigen, wenn sie ihre Eltern als Opfer ansah.
    Und Fiachra McDaid? Narraway hätte sich wegen seiner Blindheit ohrfeigen können. Wie falsch er den Mann doch eingeschätzt hatte, der seinen leidenschaftlichen irischen Nationalismus hinter seinem Eintreten für die Entrechteten aller Völker verborgen hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm alles. Wie sonderbar, dass hinter einer vorgeschobenen allumfassenden Liebe häufig die Bereitschaft stand, ungerührt einen, zehn oder zwei Dutzend Menschen zu opfern! Fiachra McDaid schien ausschließlich die Vorzüge zu sehen, die mit einer größeren gesellschaftlichen Gerechtigkeit und der Unabhängigkeit Irlands einhergingen – um welchen Preis das Land sie errang, interessierte ihn offenbar nicht. Er war ein Träumer, der offenen Auges über Leichen ging, ohne sie zu sehen. Hinter seinem charmanten Auftreten lag Eiseskälte. Narraway musste sich eingestehen, dass McDaid bemerkenswert raffiniert vorgegangen war. Dem Buchstaben des Gesetzes nach hatte er sich keine Straftat zuschulden kommen lassen, und sofern ihn der Arm der Justiz je erreichte, würde das aus einem anderen Grund geschehen.

    Narraway sah erneut zu Charlotte hinüber. Als sie es merkte, wandte sie sich ihm zu.
    »Weit und breit ist niemand zu sehen«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. »Ich glaube, wir sind in Sicherheit.«
    Das Bewusstsein, dass sie sich in seine Flucht mit einschloss,

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