Der Verräter von Westminster
Übermenschliches, gedacht. «
»Das hat gesessen«, sagte McDaid leise. Er nahm Charlottes Arm mit überraschend festem Griff. Sie hätte seine Hand nicht einmal abschütteln können, wenn sie es gewollt hätte. »Leider müssen wir jetzt zurück.« Er entschuldigte sich bei den anderen und führte sie nach einem knappen Abschied davon. Fast hätte sie ihn gefragt, ob sie jemanden gekränkt habe, doch sie wollte die Antwort lieber nicht hören, und sie dachte auch nicht daran, sich zu entschuldigen.
Als sie wieder ihre Plätze eingenommen hatten, merkte sie, dass man von ihrer Loge aus das Publikum im Parkett ebenso gut sah wie die Bühne. Ein Blick auf McDaids Gesicht zeigte ihr, dass er das mit Absicht so eingerichtet hatte, doch sie äußerte sich nicht dazu.
Sie hatten ihre Loge gerade rechtzeitig erreicht, denn schon ging der Vorhang auf, und die Handlung des Stücks nahm sie sogleich wieder gefangen. Es fiel ihr trotz der großen Gefühle schwer, den Dialogen zu folgen, die voller Anspielungen
auf geschichtliche Ereignisse und ihr unbekannte Legenden waren, so dass sie so manches nicht mitbekam. Vielleicht war das der Grund, warum sie anfing, den Blick im Saal umherschweifen zu lassen, um ein wenig von der Reaktion des Publikums zu erhaschen und auf diese Weise etwas mehr zu verstehen.
In einer Loge ihnen nahezu genau gegenüber sah sie das Ehepaar Tyrone. Sie konnte beider Gesichter ziemlich deutlich erkennen. John folgte dem Bühnengeschehen so aufmerksam, dass er sich leicht vorbeugte, als wolle er sich kein Wort entgehen lassen. Bridget sah zu ihm hin, wandte sich dann aber ab, als sie merkte, wie konzentriert er war, und ließ ihrerseits den Blick durch den Saal schweifen. Charlotte nahm das Opernglas, das ihr McDaid geliehen hatte, vor die Augen, nicht etwa, um die Schauspieler auf der Bühne besser sehen zu können, sondern damit niemand merkte, wohin sie blickte, und beobachtete Bridget aufmerksam. Als diese einen Mann entdeckte, der links unter ihr im Parkett saß, sah sie lange zu ihm hin. Obwohl Charlotte lediglich seinen Hinterkopf sehen konnte, war sie sicher, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, doch fiel ihr nicht ein, wo.
Bridget sah weiterhin unverwandt zu ihm hin, als wolle sie ihn dazu veranlassen, seinen Blick auf sie zu richten.
Die Handlung auf der Bühne spitzte sich zu, doch bekam Charlotte das nur am Rande mit, da sie sich weiterhin auf die Zuschauer im Saal konzentrierte. John Tyrone ließ nach wie vor die Schauspieler nicht aus den Augen. Der Mann im Zuschauerraum wandte endlich den Kopf und hob den Blick zu den Logen, die er eine nach der anderen abzusuchen schien, bis er Bridget entdeckt hatte. Charlotte erkannte ihn sofort, als sie ihn im Profil sah – es war Phelim O’Conor. Mit einem für sie nicht deutbaren Gesichtsausdruck hielt er den Blick unverwandt auf Bridget gerichtet.
Diese wandte den Kopf rasch beiseite, als sich ihr Mann vom Geschehen auf der Bühne löste und zu ihr hersah. Sie wechselten einige Worte miteinander.
Jetzt wandte sich O’Conor erneut der Bühne zu und beobachtete, was sich dort abspielte. Er hielt sich völlig reglos, während die Handlung erkennbar einem Höhepunkt entgegenstrebte und die Schauspieler einander wild gestikulierend zu bedrohen schienen.
In der zweiten Pause nahm McDaid Charlotte wieder mit ins Foyer, an dessen Bar Erfrischungen serviert wurden. Alle Gespräche schienen sich um das Stück zu drehen, die Qualität der Darbietung, die Frage, ob sie die Aussageabsicht des Autors deutlich machte und der Hauptdarsteller seiner Rolle gerecht wurde.
Während Charlotte zuhörte, sah sie sich aufmerksam unter den Anwesenden um. Doch wie sich zeigte, war unter ihnen niemand weiter, den sie kannte. Dennoch kamen ihr die Menschen in gewisser Weise vertraut vor. Manche von denen, die da an der Bar anstanden oder sich angeregt mit anderen unterhielten, ähnelten solchen, die sie vor ihrer Heirat gekannt hatte, so sehr, dass sie mehr oder weniger damit rechnete, sie wiederzuerkennen. Es war ein sonderbares Gefühl, angenehm und zugleich voll Wehmut, auch wenn sie ihr gegenwärtiges Leben um keinen Preis mit ihrem früheren vertauscht hätte.
»Gefällt Ihnen das Stück?«, erkundigte sich McDaid. Sie näherten sich der Bar, wo Cormac O’Neil mit einem Glas Whiskey in der Hand stand.
Ob McDaid wusste, wie wenig sie auf die Vorstellung geachtet hatte? Das war durchaus möglich. Sie wollte ihn weder belügen noch ihm die Wahrheit
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