Der Verrat
Kräften.
Ruby war von der Burton-Geschichte fasziniert. Ich erzählte ihr in groben Zügen von der Klage und den Dingen, die sich seit ihrer Einreichung ereignet hatten.
Die Zeitung drosch wieder auf Drake & Sweeney ein. Meine ehemaligen Kollegen mussten sich fragen, wie lange das noch so weitergehen würde.
Wohl noch eine ganze Weile.
Am Fuß der Titelseite stand eine kurze Meldung, nach der die Postdirektion beschlossen hatte, die Errichtung einer Verteilstelle in Northeast zu verschieben. Die Kontroverse um den Erwerb des Grundstücks und des Lagerhauses sowie die Klage gegen RiverOaks und Gantry hatten diese Entscheidung beeinflusst.
RiverOaks war ein Zwanzig-Millionen-Projekt durch die Lappen gegangen, und die Gesellschaft würde tun, was jede zielstrebige Immobilienfirma tun würde, die eine Million Dollar für ein wertloses Innenstadt-Grundstück ausgegeben hatte: Sie würde sich an der Kanzlei schadlos halten.
Und der Druck würde noch ein bißchen zunehmen.
Wir wandten uns den Ereignissen in aller Welt zu. Ein Erdbeben in Peru interessierte Ruby, also las ich ihr die Meldung vor. Weiter zum Lokalteil, wo die ersten Worte, auf die mein Blick fiel, mein Herz stocken ließen. Unter demselben Foto wie zuvor - nur dass es doppelt so groß und doppelt so bedrohlich war - stand: KITO SPIKES ERSCHOSSEN AUFGEFUNDEN. Der Artikel führte aus, welche Rolle Spires in dem Burton-Drama gespielt hatte. Weiter hieß es dann, er sei in der Nacht zum Samstag erschossen aufgefunden worden. Keine Zeugen, keine Spuren, nichts. Er war nur irgendein toter Straßengangster.
»Alles in Ordnung?« fragte Ruby und weckte mich aus meiner Trance.
»Äh, ja«, sagte ich und holte tief Luft.
»Warum lesen Sie nicht weiter?«
Weil ich zu bestürzt war, um laut lesen zu können. Ich überflog den Artikel, um zu sehen, ob Tillman Gantry irgendwo erwähnt war. Er war nicht erwähnt.
Und warum nicht? Was geschehen war, lag für mich auf der Hand: Der Junge hatte es genossen, einmal im Rampenlicht zu stehen, und zuviel gesagt. Er war für die Kläger (für uns!) zu wertvoll geworden, und er war ein leichtes Ziel gewesen.
Ich las Ruby den ganzen Artikel vor. Ich lauschte dabei auf jedes Geräusch, behielt die Eingangstür im Auge und hoffte, Mordecai würde bald kommen.
Gantry hatte gesprochen. Andere Zeugen von der Straße würden entweder den Mund halten oder verschwinden, nachdem wir sie aufgestöbert hatten. Dass Zeugen umgebracht wurden, war schlimm genug. Aber was würde ich tun, wenn Gantry beschloss, auf die Anwälte der Gegenseite loszugehen?
Mitten in diesen ängstlichen Gedanken wurde mir mit einemmal bewusst, dass diese Geschichte auch einen positiven Aspekt hatte. Wir hatten einen potentiell wichtigen Zeugen verloren, dessen Glaubwürdigkeit uns ohnehin Schwierigkeiten bereitet hätte. Drake & Sweeney wurde abermals erwähnt - zum dritten Mal an einem einzigen Morgen, und das auch noch im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Tod eines neunzehnjährigen Kriminellen. Die Kanzlei war von ihrem Thron gestoßen worden und lag in der Gosse: Ihr Name stand in demselben Absatz wie der eines ermordeten Straßengangsters.
Ich versetzte mich um einen Monat zurück in die Zeit, vor Misters Überfall und den darauf folgenden Ereignissen und stellte mir vor, dass ich vor Sonnenaufgang an meinem Schreibtisch saß und diese Zeitung las. Und ich stellte mir vor, dass ich die anderen Artikel ebenfalls gelesen hatte und wusste, dass die schwerwiegendsten Anschuldigungen, die in der Klage vorgebracht wurden, tatsächlich zutrafen. Was würde ich tun?
Keine Frage: Ich würde Rudolph Mayes, meinem leitenden Teilhaber, zusetzen, und der würde dem Vorstand zusetzen. Ich würde mich mit meinen Kollegen besprechen, mit den anderen Anwälten, die noch keine Teilhaber waren. Wir würden fordern, dass die ganze Angelegenheit gütlich bereinigt und begraben wurde, bevor noch mehr Schaden entstand. Wir würden darauf dringen, ein Verfahren um jeden Preis zu verhindern.
Wir würden alle möglichen Forderungen stellen.
Und ich vermutete, dass die meisten Mitarbeiter und sämtliche Teilhaber in diesem Augenblick genau das taten, was ich getan hätte. Bei so viel Unruhe wurde sicher nur wenig gearbeitet, und das bedeutete, dass nur wenige honorarfähige Stunden abgerechnet wurden. Die Kanzlei war ein Chaos.
»Lesen Sie weiter«, sagte Ruby und riss mich abermals aus meinen Gedanken.
Wir gingen den Lokalteil durch, unter anderem, weil ich wissen
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