Der Verrat
in Indiana.
Der schönste Teil seiner Rede befasste sich mit der Straßenkriminalität und dem Niedergang unserer Städte. (Seine Heimatstadt hatte achttausend Einwohner.) Es sei eine Schande, dass sich die Hauptstadt des Landes in einem so erbärmlichen Zustand befinde, und nun, da er dem Tod knapp entgangen sei, werde er seinen erheblichen Einfluss geltend machen, damit unsere Straßen wieder sicherer würden. Er habe ein neues Ziel gefunden.
Dann sagte er noch einiges über Waffengesetze und den Bau von Gefängnissen.
Durch die Schüsse auf Burkholder sah sich die Washingtoner Polizei einem enormen, wenn auch nur zeitweiligen Druck ausgesetzt, die Straßen der Stadt von Obdachlosen zu säubern. Senatoren und Abgeordnete verbreiteten sich den lieben langen Tag über die Gefahren, die in der Innenstadt von Washington drohten.
Also wurde nach Einbruch der Dunkelheit wieder aufgeräumt. Man entfernte jeden Betrunkenen, Bettler oder Obdachlosen aus der näheren Umgebung des Capitols.
Manche wurden verhaftet. Andere lud man einfach auf Lastwagen und karrte sie wie Vieh in andere Gegenden.
Um zwanzig vor zwölf wurde ein Streifenwagen zu einem Schnapsladen in der 4th Street unweit der Rhode Island Avenue geschickt. Der Besitzer des Ladens hatte Schüsse gehört, und Anwohner hatten gemeldet, auf dem Bürgersteig liege ein Mann.
Auf einem unbebauten Grundstück neben dem Laden fanden die Polizisten hinter einem Schutthaufen die blutüberströmte Leiche eines jungen Schwarzen. Das Blut stammte von zwei Einschusslöchern im Kopf.
Er wurde später als Kilo Spires identifiziert.
VIERUNDDREISSIG
Am Montag morgen tauchte Ruby wieder auf und brachte einen Riesenhunger auf Kekse und Neuigkeiten mit. Sie saß auf der Schwelle und begrüßte mich mit einem Lächeln und einem freundlichen Hallo, als ich um acht Uhr, ein bißchen später als sonst, vor dem Büro eintraf. Solange Gantry irgendwo da draußen war, zog ich bei meiner Ankunft helles Tageslicht und einen belebteren Bürgersteig vor.
Sie sah unverändert aus. Ich dachte, ich könnte vielleicht von ihrem Gesicht ablesen, ob sie Crack genommen hatte oder nicht, aber dort war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Ihre Augen waren hart und traurig, aber sie war guter Stimmung. Wir gingen gemeinsam hinein und legten unsere Sachen auf dem gewohnten Tisch ab. Es war beruhigend, dass außer mir noch jemand im Haus war.
»Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, sagte sie und steckte die Hand in eine Kekstüte. Wir hatten allesamt vorige Woche Kekse nur für Ruby gekauft, obgleich Mordecai eine Spur von Krümeln hinterlassen hatte.
»Wo schlafen Sie?«
»In meinem Wagen.« Wo sonst? »Ich bin froh, dass der Winter bald vorbei ist.«
»Ich auch. Sind Sie bei Naomi gewesen?« fragte ich.
»Nein. Aber ich gehe heute hin. In letzter Zeit ging es mir nicht so gut.«
»Ich fahre Sie hin.« »Danke.«
Die Unterhaltung war ein wenig steif. Sie erwartete, dass ich sie nach ihrer letzten Nacht im Motel fragen würde. Das wollte ich auch, hielt es aber für besser, es nicht zu tun.
Als der Kaffee fertig war, schenkte ich zwei Becher ein und stellte sie auf den Schreibtisch. Sie war bei ihrem dritten Keks angelangt, an dem sie herumknabberte wie eine
Maus.
Wie konnte ich mit jemandem, der so bemitleidenswert war, streng sein? Also weiter mit den Neuigkeiten.
»Soll ich ein bißchen aus der Zeitung vorlesen?« fragte ich.
»Das war schön.«
Auf der Titelseite war ein Foto des Bürgermeisters, und da Ruby Artikel über die Kommunalpolitik gefielen und der Bürgermeister immer etwas Farbe ins Spiel brachte, las ich diesen Beitrag zuerst vor. Es handelte sich um ein Interview, in dem der Bürgermeister und der Stadtrat, die eine zeitweilige, wackelige Allianz eingegangen waren, das Justizministerium aufforderten, den Tod von Lontae Burton und ihren Kindern zu untersuchen. Waren irgendwelche Bürgerrechte verletzt worden? Der Bürgermeister deutete an, dass er diese Vermutung hege, doch das letzte Wort sollte die Justiz haben.
Seit unsere Klage in den Mittelpunkt des Interesses gerückt war, gab man einer ganz neuen Gruppe von Beteiligten die Schuld. Kein Finger zeigte mehr auf die Stadtverwaltung, und der Austausch von Beleidigungen zwischen Stadtrat und Kongreß hatte fast aufgehört. Diejenigen, die anfangs Zielscheibe der Vorwürfe gewesen waren, waren froh, die Verantwortung auf eine große Kanzlei und ihren reichen Mandanten abwälzen zu können, und taten das auch nach
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