Der Verrat
weiß verputzte Mauern mit geometrisch angeordneten, schwarzen Ziegeln verziert waren, umschlossen jedes Anwesen, in dem eine Vielzahl von Gefolgsleuten und Dienern des jeweiligen daimyō wohnten. Vor den kunstvoll mit Eisen beschlagenen, schweren Toren standen die mit Ziegeln gedeckten Wachhäuser der Posten. Als Midoris Sänfte vor dem Tor zum Anwesen ihres Vaters hielt, das von einem Libellenwappen geziert wurde, dem Familienwappen der Niu, bebte ihr Kinn vor Angst.
Dies war einst ihr Zuhause gewesen. Doch mit dem Ort waren böse Erinnerungen verbunden, und Midori kehrte nur hierher zurück, wenn es unerlässlich war. Wäre der Befehl ihres Vaters nicht gewesen – und ihre Hoffnung, Hirata doch noch zu heiraten –, hätte sie das Anwesen für immer gemieden.
Hinter dem Tor patrouillierten Samurai auf dem Innenhof. Die Kasernen der Wachmannschaften bildeten einen inneren Schutzwall rings um das Anwesen des daimyō – einen großen Komplex von Fachwerkhäusern, die durch überdachte Gänge miteinander verbunden und auf Granitmauern gebaut waren. Vor der Tür zu Nius Privatgemächern traf Midori auf Okita, den obersten Gefolgsmann ihres Vaters.
»Er erwartet Euch«, sagte Okita.
Sein hartes Gesicht und sein nüchterner Tonfall gaben keinen Hinweis darauf, was Midori zu erwarten hatte.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie.
»Ein wenig besser.« Offenbar hatte Fürst Nius Zustand sich gefestigt. »Ihr solltet ihn dennoch nicht aufregen.«
»Warum möchte er mich sprechen?«, fragte Midori.
Statt ihr eine Antwort zu geben, öffnete Okita die Tür. Midori trat zögernd ein. Okita folgte ihr und schloss die Tür hinter sich.
Der Raum hätte jedem reichen Adelsherrn gehören können, hätten nicht einige Besonderheiten auf Fürst Niu hingewiesen. Midori wusste, dass die Schränke, Truhen und Geheimfächer in den Wänden und im Boden versteckte Waffen enthielten. Eine Wand wies Dellen und Flecke auf, die von Gegenständen stammten, die Fürst Niu bei seinen Wutanfällen durchs Gemach geschleudert hatte. Die beiden Wachposten, die neben der Tür standen, mussten den Fürsten vor sich selbst und alle anderen vor seinen Anfällen schützen. Ein eigentümlicher, süßlicher Geruch hing in der Luft.
Fürst Niu kniete auf dem Podium und wetzte einen Dolch. Jedes Mal, wenn die Klinge gegen den Schleifstein stieß, wirbelten Funken durch die Luft. Der Fürst bemerkte seine Tochter nicht sofort. Als Midori sich vors Podium kniete, fiel ihr auf, wie normal ihr Vater heute wirkte, beinahe wie jeder andere daimyō , der sich um die Pflege seiner Waffen kümmerte. Schließlich hob Fürst Niu sein schiefes, entstelltes Gesicht und schaute seine Tochter an.
Midori zitterte vor Angst. Hastig senkte sie den Blick und verneigte sich.
»Du schändliche Hure! Du kleine Verräterin!« Fürst Niu stieß die Beleidigungen in einem freundlichen, beinahe alltäglichen Tonfall aus, der Midori einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Dabei widmete er sich ungerührt weiter dem Schleifen seines Dolchs. »Wie kannst du deinen eigenen Vater verraten, indem du mit dem Sohn seines Feindes verkehrst?«
Midori, die so verängstigt war, dass sie ihrem Vater keine Antwort geben konnte, presste die Lippen aufeinander, um deren Zittern zu unterdrücken. Ihre Hoffnung, ihr Vater könne seine Meinung über die Eheschließung geändert haben, erschien ihr nun absurd.
»Für deinen Verrat hast du den Tod verdient«, sagte Fürst Niu.
Midoris Herzschlag beschleunigte sich ebenso wie sein Schleifen des Dolches. Sie spähte zu Okita und den Wachen hinüber, die auf sie zuschritten. Fürst Niu hatte bisher niemals einen Angehörigen seiner Familie getötet, doch das bot keine Garantie, dass er es nicht irgendwann tun würde, selbst wenn das Opfer die eigene Tochter war.
»Aber du bist mein eigen Fleisch und Blut, egal, was du getan hast«, sagte Fürst Niu. »Ich gebe dir die Möglichkeit, deine Schandtaten wieder gutzumachen.« Sein linkes Auge zwinkerte Midori zu. Das rechte Auge blieb unbewegt. »Sag mir alles, was du über die Pläne von Hiratas Klan weißt, mich zu vernichten.«
Midori wäre am liebsten davongelaufen, doch sie war die Gefangene ihres Vaters, und sie musste Hirata verteidigen. Doch sie stammelte bloß: »Ich weiß nicht … sie wollen nicht … ich kann nicht …«
»Sag bloß nicht, du wüsstest nichts davon!« Fürst Niu hielt in seiner Tätigkeit inne. Seine Hände waren von dem Schleifen geschwärzt. Er blickte Midori
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