Der Verrat
Geduld für langwierige Vernehmungen.
»Sagt es mir!«, rief Sano, doch der Mann schwieg. Hirata stieß einen Finger in Noguchis Luftröhre. Mit hochrotem Gesicht wand der Hauptmann sich in Hiratas Griff und rang nach Luft.
»Habt Ihr Himmelsfeuer gesehen?« Es widerstrebte Sano zutiefst, seine Macht zu missbrauchen, doch er hätte Noguchi liebend gern die Luft abgeschnürt.
Auf Noguchis Gesicht breitete sich Panik aus. Er stammelte mit krächzender Stimme: »Also … gut, ich … sage es Euch. Aber … lasst mich los …«
Hirata ließ von ihm ab. Noguchi taumelte, schnaufte und keuchte. »Himmelsfeuer war gestern hier«, stieß er dann hervor. »Er hat das ganze Geld aus unserer Kasse mitgenommen. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Das ist die Wahrheit – ich schwöre es.«
Reiko erhielt den Brief, kurz nachdem Sano das Haus verlassen hatte, um Himmelsfeuer zu suchen. Sie öffnete die Bambusrolle, die ein Bote des Palasts bei ihr abgegeben hatte. Die Nachricht war auf billiges Papier gekritzelt. Reiko las:
Ich habe Wisterie gefunden. Wenn Ihr sie sehen wollt, geht zum Nudelstand an der Ecke des Badehauses. Lasst mich dort abholen, dann führe ich Euch zu ihr. Wartet nicht zu lange, sonst werden wir sie nicht mehr finden. Und bringt das Geld mit, das Ihr mir versprochen habt.
Yuya
Freudige Erregung erfasste Reiko. Sie wunderte sich über Yuyas Angebot, ihr zu helfen, und über die Nachricht, dass Wisterie noch lebte. Doch in ihre Hoffnung, Neuigkeiten zu erfahren, die Sano helfen könnten, mischte sich Argwohn. Gestern hatte Yuya die Zusammenarbeit abgelehnt, sodass Reiko sich jetzt nach dem Grund ihres Sinneswandels fragte. Warum hatte Yuya ihre Meinung geändert?
Den Brief in Händen, ging Reiko im Gemach auf und ab und überlegte, was sie tun sollte.
Sie hatte Angst, in eine Falle zu tappen, obwohl es keinen ersichtlichen Grund gab, warum Yuya ihr Schaden zufügen sollte. Reiko gelangte zu dem Schluss, dass in dieser Situation die Notwendigkeit etwaigen Bedenken weichen musste und dass sie Yuyas Anweisungen folgen sollte, um nicht die Gelegenheit zu verpassen, wertvolle Informationen zu erhalten. Sie bezweifelte, Wisterie zu treffen, und zögerte, allein zu gehen, doch sie hatte keine Zeit, Sano um Rat zu fragen. Überdies wusste Reiko ja nicht einmal, wo Sano war.
Reiko rief einen Diener und bat ihn, zwei von Sanos besten Ermittlern zu ihr zu führen. Zum Glück waren die Männer noch nicht mit der Jagd nach Himmelsfeuer beschäftigt. Als die Ermittler Marume und Fukida zu ihr kamen, zeigte Reiko ihnen die Nachricht und sagte: »Bitte gebt den Trägern und Soldaten Bescheid, sie mögen mich zu Yuya bringen. Ihr begleitet mich.«
Als die Ermittler und Soldaten Reiko in ihrer Sänfte aus dem Hof eskortierten, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf O-hana, die sie mit düsteren Blicken von der Tür aus beobachtete.
Reiko durchquerte mit ihrem Gefolge rasch die Stadt und ließ sich bald darauf in dem Elendsviertel mit den baufälligen Behausungen absetzen. Ein scharfer, eisiger Wind fegte Schmutz über die Straße, rüttelte an den morschen Türen und Fenstern und wirbelte Abwasserpfützen auf. Während ihre Gefolgsleute draußen warteten, betrat Reiko den Nudelstand – einen schmalen Verschlag neben einem Lebensmittelgeschäft. Eine liederlich gekleidete Frau rührte in Töpfen, die auf einer Feuerstelle standen. Kinder zankten sich in einem Raum hinter der Küche.
»Ich möchte Yuya sprechen«, sagte Reiko.
Die Frau nickte und schickte eines ihrer Kinder ins Badehaus. Reiko wartete unruhig. Bald huschte Yuya ins Zimmer. Sie trug einen gelbbraunen, abgetragenen Umhang und schien aufgeregt zu sein, versuchte es aber zu verbergen.
»Wo ist Wisterie?«, fragte Reiko ohne Umschweife.
Yuya antwortete mit einem Schmollmund und einem gequälten Gesichtsausdruck. »Besorgt mir zuerst etwas zu essen«, verlangte sie und kniete sich auf den Boden. »Euretwegen habe ich meine Mahlzeit verpasst.«
Reiko war ungeduldig, bestellte aber dennoch eine Schüssel Nudeln in Miso-Suppe. Dann saßen sie beieinander, während Yuya mit einer Gemächlichkeit aß, die an Reikos Nerven zerrte.
»Gestern Nacht wurde ich wach, als jemand an mein Fenster klopfte und meinen Namen rief«, sagte Yuya schließlich. »Ich schaute hinaus und erblickte Wisterie auf der Straße. Sie weinte. Ich fragte: ›Was tust du hier?‹ Sie erwiderte, sie brauchte meine Hilfe und habe sonst niemanden, an den sie sich
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