Der Verrat
zwanzig Minuten ins Weiße Haus. Ich möchte, dass Sie mitkommen.«
»Soll ich irgendwas mitnehmen?«
»Nein.« Kennedy folgte den Männern quer durch den Raum und schloss die Tür hinter ihnen. Als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, griff sie nach ihrem abhörsicheren Telefon und wählte eine lokale Nummer. Rapp meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
»Triffst du dich mit Rivera?«, fragte sie.
»Ja.«
»Du musst deine Suche auf Ross ausdehnen. Vielleicht kann sie dir die Aufzeichnungen von seinem Secret-Service-Sicherheitsteam besorgen. Und frag Marcus, ob er Informationen über Ross einholen kann, ohne dass jemand misstrauisch wird.«
»Ich kümmere mich darum. Wann ist deine Pressekonferenz?«
»Ich fahre jetzt zum Präsidenten. Ich rufe dich an und lass dich wissen, wie es läuft.« Kennedy legte den Hörer auf die Gabel und dachte darüber nach, dass zwischen ihr und Ross bald offene Feindschaft herrschen würde. Sie hatte dem Mann nie wirklich getraut, auch nicht während seiner kurzen Amtszeit als Oberaufseher der Geheimdienste, doch sie hatte es sich nie anmerken lassen. Wenn sie nun eine Pressekonferenz mit Präsident Hayes abhielt, würde Ross wissen, dass sie ihm Informationen vorenthalten hatte, und dann würde es nicht einmal mehr möglich sein, so zu tun, als würde man eng und freundschaftlich zusammenarbeiten. Kennedy blickte durch das große Panoramafenster auf den strahlenden Tag hinaus. Sie verspürte ein Gefühl der Erleichterung, dass sie sich zu einer klaren Vorgehensweise entschlossen hatte.
43
Washington D. C.
Special Agent Rivera saß an ihrem Schreibtisch und blätterte die Gelben Seiten durch. Sie fand das Stichwort Karate, und darunter stand siehe Martial Arts. Sie blätterte zum Buchstaben M weiter und fand den Eintrag. Es waren sechs ganze Seiten allein im Raum Washington. Sie schüttelte den Kopf und suchte nach einem Studio, das zwischen ihrem Büro und ihrer Wohnung lag. Als sie heute Morgen ihr gewohntes Dojo aufsuchen wollte, fand sie den Inhalt ihres Spinds in einer braunen Einkaufstüte bei der Eingangstür vor. Ihr Sensei gab gerade Unterricht, und er machte sich nicht einmal die Mühe, herauszukommen und mit ihr zu sprechen. Sie wurde nach nur fünf Wochen hinausgeworfen, und sie brauchte nicht erst zu fragen, warum.
Rivera hörte auf, die Liste durchzugehen, und schloss die Augen. Was, zum Teufel, mache ich hier?, fragte sie sich. Sie stand vor den Trümmern ihres bisherigen Lebens. Drei Monate lang hatte sie sich geweigert, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Sie wusste längst, dass ihre Karriere vorbei war – trotzdem klammerte sie sich an irgendeine vage Hoffnung, dass sie eine zweite Chance bekommen könnte. Einer ihrer Vorgesetzten hatte ihr doch tatsächlich gestern gesagt, dass er ihr eine Therapie für die Trauerarbeit empfehle. Dieser Mistkerl, dachte sie.
Sie hatte ihn gefragt, ob er glaube, dass sie die Therapie brauche, um über den Verlust ihrer Kollegen hinwegzukommen, die bei dem Anschlag ums Leben gekommen waren, oder dafür, dass ihre Karriere nun gestorben war. Er sah sie mit steinerner Miene an und sagte, dass niemand ihr die Schuld an den Vorfällen gebe. Wahrscheinlich hatte er sogar recht, doch das änderte nichts daran, dass niemand sie mehr hier haben wollte. Sie war die lebende Erinnerung an einen der schwärzesten Tage des Secret Service seit Dallas 1963. Ein anderer Kollege riet ihr, von Washington wegzugehen und einen Job in der Abteilung für Fälschung und Betrug in Miami oder LA. anzunehmen. Das wäre eine echte Herausforderung, und wenn das nichts für sie sei, könne sie sich ja im Joint Counterterrorism Center bewerben. Mach, was du willst, hatte er gemeint, solange es nichts mit Personenschutz zu tun hat.
Rivera schloss die Gelben Seiten und warf das Buch auf den Boden. Warum verschwendete sie ihre Zeit damit, ein neues Karatestudio zu suchen? Ihre Tage in Washington waren gezählt, das wusste jeder. Sie musste jetzt versuchen, es zu akzeptieren. Das Leben war grausam, dachte sie. Sie war so nahe am Ziel gewesen. So dicht vor dem Job, den sich im Grunde jeder Agent wünschte. Die Leitung des Sonderkommandos zum Schutz des Präsidenten. Sie war die Favoritin für den Posten, und sie hätte ihn auch bekommen.
Sie unterdrückte die Tränen, die in ihr hochkamen. Nein, sie würde sich nicht hier vor den anderen gehen lassen. Darauf warteten sie ja nur. Sie würden es als Indiz dafür nehmen, dass sie den Anforderungen des Jobs
Weitere Kostenlose Bücher