Der Verrat
Ross machte eine schwungvolle Geste, so als würde er sie alle zusammen mit einem Handstreich hinwegfegen. Er beugte sich vor und zeigte mit dem Finger auf die Zeitung vor ihm. »Wissen Sie, was mich an diesem Artikel am meisten ärgert? Dieses Zitat von einem hochrangigen CIA-Vertreter. Ihr glaubt hier anscheinend, wir sind in Hollywood, wo man seine Differenzen regelt, indem man einen Journalisten anruft und einem Kollegen in den Rücken fällt.«
Keiner der Anwesenden sagte etwas. Kennedy war die Einzige, die ihn ansah.
Ross’ feuriger Blick richtete sich auf sie. »Ich habe den Auftrag des designierten Präsidenten Alexander, dieser Sache auf den Grund zu gehen, damit wir sie so schnell wie möglich hinter uns lassen können. Bitte sagen Sie mir, dass sich dieser Journalist geirrt hat. Dass es eine einfache Erklärung dafür gibt, dass Mitch Rapp diesem Mann vier Kugeln verpasst hat.«
Irene Kennedy horchte auf. Als langjährige Angehörige der CIA wusste sie einiges über die Kunst, Informationen durch Täuschung zu erlangen oder bestimmte Ziele durch versteckte Strategien zu erreichen. In der guten alten Spionage ging es beispielsweise darum, durch gezielte Täuschungsmanöver und Finten den Feind so weit zu bringen, dass er nicht mehr wusste, wem er noch trauen konnte. In der Zeit des Kalten Krieges hatten es die Russen meisterhaft verstanden, Misstrauen in den Reihen der CIA zu säen. Sie gingen sogar so weit, Überläufer in den Westen zu schicken, die dann weiter für die Russen spionierten. Diese Männer und Frauen waren so gut, dass man sie unmöglich von echten Überläufern unterscheiden konnte. Der Schaden, den diese Leute anrichteten, war gar nicht abzuschätzen.
Kennedy wurde das Gefühl nicht los, dass Ross irgendetwas im Schilde führte. Der Mann konnte sie nicht leiden. Die Agency als Ganzes war ihm egal. Er selbst war wahrscheinlich das Einzige, was ihm wichtig war. Kennedy hatte schon vor einiger Zeit die zwanghaften Symptome und die narzisstischen Züge an dem Mann bemerkt. Ross war ganz eindeutig ein machthungriger Kontrollfreak. Für solche Leute ging es nicht bloß darum, zu gewinnen – das wäre ihnen zu langweilig gewesen. Sie brauchten den gewissen Kitzel, das Drama des Kampfes. Die höchste Erfüllung war es, durch eine List zu gewinnen. Dadurch fühlte sich das narzisstische Ego bestätigt. So konnte man sich selbst beweisen, dass man schlauer war als alle anderen.
Kennedy hätte ganz einfach den Speicherstick aus dem Safe holen und Ross die Fülle an Beweismaterial zeigen können, das sie gegen den Mann, den Rapp festgenommen hatte, in der Hand hatten – doch sie beschloss, ihm die Informationen nicht zu geben. Sie mussten noch einiges herausfinden, und ihr Gefühl sagte ihr, dass man Ross nicht trauen konnte.
»Sir«, sagte Kennedy schließlich, »die ganze Sache wird untersucht, und ich denke, es wäre kontraproduktiv, irgendwelche Kommentare abzugeben, bevor nicht alle Fakten auf dem Tisch liegen.«
»Das klingt, als würde es ein verdammter Jurist sagen«, knurrte Ross.
Kennedy blieb ruhig. »Wenn Sie angerufen hätten, Sir, und mich davon informiert hätten, dass Sie kommen, dann hätte ich einen Rohbericht zusammenstellen können, aber ich weiß nicht, was Sie so kurzfristig von mir erwarten.«
Ross’ Nasenflügel blähten sich vor Zorn. »Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Ihren Job machen, und ich erwarte, dass Sie sich an die Gesetze halten. Bereinigen Sie dieses Desaster, und zwar schnell, sonst können Sie sich alle nach einem neuen Job umsehen. Das lässt Ihnen übrigens Josh Alexander ausrichten.« Ross drehte sich um und stürmte aus dem Büro.
Kennedy hatte jede Bewegung von ihm verfolgt. Der Mann hätte Schauspieler sein können, so wie er seine Emotionen nach Belieben ein- und ausschaltete. Sie hatte die kalkulierte Entscheidung getroffen, ihn ein wenig zu provozieren, um zu sehen, ob er weiter den großmütigen Retter spielen würde, als der er aufgetreten war – und er hatte prompt sein wahres Gesicht gezeigt. Sein Zorn war jedenfalls echt gewesen, nachdem sie es gewagt hatte, ihm die Stirn zu bieten.
Kennedy schob ihren Sessel vom Tisch zurück und stand auf. »Das wäre alles für heute Morgen.«
»Wir sind fertig?«, fragte Billings überrascht.
»Ja. Wir treffen uns um ein Uhr wieder hier.«
Die drei Männer nahmen ihre Unterlagen und standen auf, um zu gehen. Kennedy sah Juarez an, der als Letzter ging. »José«, sagte sie, »ich fahre in
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