Der Verrat
ihre Weise in die amerikanischen Wahlen eingreifen würde. Nach der Explosion hatte sich Irene Kennedy schon denken können, wie die Bevölkerung auf diese Einmischung in die amerikanische Politik reagieren würde. Zwei Wochen später wurde sie in ihrer Erwartung bestätigt. Die Wahlbeteiligung war so hoch wie noch nie, und Josh Alexander und Mark Ross wurden mit überwältigender Mehrheit ins Weiße Haus gewählt. Kurz nach der Wahl kündigte Ross gegenüber den Medien an, dass er die CIA einer grundlegenden Prüfung auf allen Ebenen unterziehen werde. Im Klartext hieß das, dass einige Köpfe rollen würden.
Obwohl sie selbst nun dreiundzwanzig Jahre für die Agency arbeitete, nahm sie das alles keineswegs persönlich. Die Bevölkerung hatte ihre Wahl getroffen, und in einer Woche würde es eine friedliche Machtübergabe von einer Regierung zur nächsten geben. In ihrer letzten Woche im Amt ging es nun darum, alle Informationen, die für sie oder ihre Mitarbeiter belastend sein konnten, zu vernichten. Aus ihrer bisherigen, wenig erfreulichen Bekanntschaft mit Ross wusste sie, dass er ein nachtragender Mistkerl war. Es würde ihm nicht genügen, sie einfach nur zu feuern, nachdem sie erst vor zwei Jahren als erste Frau das Amt des Direktors der CIA übernommen hatte. Irene Kennedy hielt es für gut möglich, dass er die Gelegenheit ergreifen würde, um sie quasi an den Pranger zu stellen und sie für die folgenden Jahre in quälende Untersuchungen zu verstricken. Sie nahm sich vor, Präsident Hayes sicherheitshalber um eine Generalbegnadigung zu bitten. Nach allem, was sie getan hatte, war das wohl nicht zu viel verlangt.
Kennedy wandte den Blick von der ruhigen Winterlandschaft ab und sah auf ihre Uhr. Sie waren spät dran. Das musste am Schnee liegen, sagte sie sich. Es war Samstagmorgen, eine Zeit, in der sie fast immer im Büro war. Zumindest noch eine Woche. Sie rechnete damit, dass man ihr am Montag in einer Woche, wenn sie zur Arbeit erschien, ihre Codekarte und die Zugangsberechtigung abnehmen würde. Das war Ross’ Stil. Er würde es so schmerzlich wie möglich für sie machen.
Das Ganze hatte aber auch einen Vorteil – zumindest redete sie sich das ein. Von ihren fünfundvierzig Lebensjahren hatte sie dreiundzwanzig der CIA gewidmet. Sie hatte einen wundervollen, zehn Jahre alten Sohn, mit dem sie noch nie genug Zeit hatte verbringen können. Bald würde er in das Alter kommen, wo man mit seinen Eltern nichts mehr zu tun haben wollte. Dieser vorzeitige Abschied von der Agency würde ihr die Möglichkeit geben, ihm endlich mehr Zeit zu widmen. In Washington war es längst kein Geheimnis mehr, dass ihre Laufbahn zu Ende ging. Sie hatte bereits zwei Jobangebote von Universitäten bekommen, drei von Expertenkommissionen und eines von einer privaten Versicherung. Und das alles, ohne dass sie auch nur ein Wort gesagt hätte. Sie versuchte die Dinge positiv zu betrachten und sagte sich, dass sie interessante Möglichkeiten hatte – doch sie wusste, dass nichts ihr je so viel bedeuten würde wie ihre gegenwärtige Aufgabe und die Leute, mit denen sie zusammenarbeitete.
Es klopfte an der Tür, und im nächsten Augenblick ging sie auf. Kennedy lächelte, als sie sah, dass es Skip McMahon war.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte der über einen Meter neunzig große, bullige Special Agent des FBI. »Die Leute hier in der Stadt drehen durch, wenn es schneit.«
»Gut, dass heute Samstag ist.«
McMahon hielt eine große Aktentasche in der Hand. Er kam auf Irene Kennedy zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Also, wie sieht’s aus? Hast du endlich beschlossen, mich zu heiraten und mich zu einem ehrbaren Mann zu machen?«
Kennedy lächelte und zeigte auf den Sitzbereich des Büros. »Kaffee oder Tee?«
»Seit wann trinke ich Tee?«
Sie schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein, während McMahon sich auf die Couch setzte und die Aktentasche neben sich legte. Kennedy reichte ihm die Tasse und ließ sich auf einem Ohrensessel nieder.
»Ich habe fast erwartet, dass du schon deine Sachen in Kisten gepackt hast«, stellte der FBI-Mann fest.
Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Weißt du irgendwas, das ich nicht weiß?«
»Sehr lustig.« McMahon blickte sich in dem holzgetäfelten Büro um und ging nicht auf ihre vorgetäuschte Naivität ein. Überall an den Wänden hingen Fotos von Leuten und Orten. Einige der Fotos sprachen für sich: ehemalige CIA-Direktoren, die Twin Towers, die Berliner
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