Der Verrat
drauflos und riefen ihre Fragen herüber. Rivera achtete nicht auf das, was sie sagten. Sie registrierte nur den Ton ihrer Stimmen, während ihre Augen alles um sie herum wahrnahmen. Nie blieb ihr Blick länger als ein, zwei Sekunden an einer bestimmten Person hängen. Die meisten Sicherheitskräfte machten das schon von sich aus so. Einigen wenigen musste man es beibringen. Diejenigen, die es nicht kapierten, wurden aussortiert. In diesem Job mussten gewisse Dinge instinktiv passieren.
Es waren zweierlei Attentäter, nach denen sie Ausschau hielten – einerseits der typische Verrückte, andererseits der professionelle Killer. Den Verrückten konnte man meist schon äußerlich erkennen. Leute dieses Typs hatten einen wilden Blick, schmutzige Fingernägel und zerzaustes Haar. Gelegentlich waren es Frauen, aber in den meisten Fällen Männer. Zappelige, nervöse Männer, die unruhig auf und ab gingen. Zumeist waren sie geisteskrank, sodass man eigentlich Mitleid mit ihnen haben konnte, was sie aber um nichts weniger gefährlich machte. Mit dem professionellen Killer hingegen war es eine ganz andere Sache. Der Vertreter dieses Typs war abgebrüht genug, um sich ganz unauffällig zu benehmen, bis er plötzlich eine Pistole zog und dem Präsidentschaftskandidaten eine Kugel in den Kopf jagte, dass sein Gehirn auf den Bürgersteig spritzte. Aus diesem Grund blieb sie in der Nähe ihrer Schützlinge.
Heute war die Aufgabe nicht allzu schwierig. Sie kannte alle Gesichter im Medienbereich – und das waren die einzigen Leute, die nahe genug waren, um irgendetwas zu tun. Außerdem hatte sie zwei Agenten damit beauftragt, die Journalisten im Auge zu behalten, damit sie sofort eingreifen konnten, wenn tatsächlich Ärger drohte. Die einzige andere Möglichkeit war ein Scharfschütze aus einem der Häuser gegenüber – aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Attentäter auf diese Weise einen präzisen Schuss anbringen konnte, bevor ihm ihre eigenen Scharfschützen eine Kugel in den Kopf jagten, war vernachlässigbar gering. Alles, was sie zu tun hatte, war, ihre Schützlinge die Treppe hinunter und in die Autos zu bekommen – dann konnte sie sich zurücklehnen. Das Naval Observatory war nur wenige Blocks entfernt. Verglichen mit den meisten anderen Terminen des Wahlkampfs war das hier ein Kinderspiel. Hier standen nicht Hunderte von Menschen, die niemand überwachen konnte und die ihre Hände nach den Kandidaten ausstreckten. Das hier war kein Festsaal, wo sie ihre Schützlinge durch eine Küche führen musste, in der jede Menge Messer herumlagen und launische Köche sich über misslungene Gerichte ärgerten. In diesem Fall war wirklich alles unter Kontrolle.
Rivera sah, wie Garret der Pressesekretärin ein Zeichen gab. Die Frau trat vor die Kameras und bedankte sich bei den Reportern für ihr Kommen. Alexander und Ross hatten solche Termine schon so oft absolviert, dass man ihnen nichts mehr sagen musste. Beide Männer gingen die Treppe zur wartenden Limousine hinunter. Die hintere Tür auf der Beifahrerseite war bereits geöffnet, und ein Agent stand daneben. Rivera folgte den beiden Kandidaten und blieb dicht hinter ihnen, als sie die Treppe hinunterstiegen. Alexander stieg als Erster ein, gefolgt von Ross und Garret. Rivera schloss die Tür und blickte nach links, um nach Alexanders Frau zu sehen. Sie nahm auf dem Rücksitz der anderen Limousine Platz, und Special Agent Cash wandte sich Rivera zu. Sie konnte seine Augen hinter der Sonnenbrille nicht erkennen, doch seinen angespannten Gesichtszügen nach zu urteilen, war er immer noch sauer. Cash schüttelte den Kopf und verschwand im Wagen. Rivera schob den Gedanken beiseite. Zwei Wochen noch durften Egos, Gefühle und Freundschaften keine Rolle spielen – danach konnten sie sich alle miteinander betrinken und einander alle möglichen Vorwürfe an den Kopf knallen.
Rivera setzte sich auf den Beifahrersitz, schloss die schwere Tür und wandte sich dem Fahrer zu. »Los geht’s, Tim.«
Der Fahrer legte den Gang ein und nahm den Fuß vom Bremspedal. Die schwere Limousine setzte sich in Bewegung und rollte über das Kopfsteinpflaster der schmalen Zufahrt. Die beiden Limousinen passierten das offene Tor und nahmen den freien Platz in der Kolonne der Fahrzeuge ein, die bereits draußen auf der Straße warteten. Rivera gab das Startsignal für den Konvoi und blickte sich weiter wachsam um, auch wenn sie in diesem rollenden Panzer bestens aufgehoben waren – aber Gewohnheiten
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