Der Verrat Der Drachen: Roman
wie mit ihnen«, sagte er. Der Ton seiner Stimme war ruhig, aber Tuon spürte die Bewunderung von mehr als Freundschaft darunter. Sie seufzte und verstärkte ihren Griff um die Reling. Ihr Herz war noch immer zu sehr von Rorc erfüllt, um sich einem anderen zuzuwenden, ganz gleich, über welche guten Eigenschaften er verfügen mochte.
»Mir wird kalt«, sagte sie. »Ich glaube, ich gehe wieder hinein.«
Ivar nickte scheinbar gelassen. »In Ordnung«, sagte er und lehnte sich gegen die Reling. »Vielleicht könnt Ihr uns heute Nacht helfen, ein paar der Schriftrollen zu entziffern; es sind zu viele, als dass zwei Paar Augen sie alle durchsehen könnten.«
»Vielleicht«, sagte Tuon und ging zurück auf die Kajüten zu.
Ein Sturm holte sie gegen Sonnenuntergang ein. Regen prasselte in heftigen Strömen herab, und das Meer wurde zu einem wogenden Albtraum hoher Wellenkämme und tiefer Täler; das Schiff neigte sich und schoss wieder hoch, als würde es als Kinderspielzeug an einer Schnur baumeln. Tuon dankte den Göttern dafür, dass Ashuk einen Vorrat an Herrin-Pulver an Bord verwahrte, sonst hätten sie wohl alle über der Reling gehangen. Ohnehin zogen sie und Veila sich bald nach dem Aufkommen des Sturms in ihre Kajüte zurück; ihnen war zu übel, als dass sie hätten essen können. Ivar war zum Dienst auf dem Schiff verdonnert worden, um zu helfen, den Sturm zu bekämpfen.
Das Schlingern des Schiffs und die Enge der Kajüte machten Tuon aber bald klaustrophobisch, und so ließ sie Veila in der Koje schlafend zurück und stieg den schmalen Niedergang zur Kombüse hinauf. Der Raum lag verlassen da, und sie konnte neben dem ständigen Heulen des Windes und Rauschen des Meeres gedämpfte Rufe und Poltern vom Deck hören. Unter Deck zu sein versetzte sie in Furcht, in der Falle zu sitzen, falls dem Schiff etwas zustieß, aber Ivar hatte ihr gesagt, dass sie unten weitaus sicherer sei als an Deck. Dennoch war ihr Inneres angespannt, als sie sich an den Tisch an der Schiffswand setzte und die flackernden Schatten betrachtete, die vom Lampenlicht bei jeder Bewegung des Schiffs geworfen wurden. Alles knarrte, und die Töpfe und Pfannen klapperten in den Schränken, während das Schiff krängte.
Die Zeit verging quälend langsam. Die polierte Holzbank war hart, und nach einer Weile begann Tuons Rücken zu schmerzen. Sie sah sich nach einem der festen Kissen um, die Veila früher am Tag verwendet hatte, und fand sie in einer an die Wand genagelten Tasche aus robustem Stoff. Als sie eines herauszog, sah sie, dass dahinter Ivars Bündel mit den Schriftrollen verstaut war. Sie zögerte, dachte dann aber, dass es ihr wenigstens etwas zu tun geben würde.
Vorsichtig zog sie eine der Schriftrollen hervor, öffnete sie und beschwerte die Ecken mit vier Topfständern aus Metall. Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich im schwachen Licht darüberbeugte.
Zarte Zeichnungen eines verzierten steinernen Tors, eines Drachenkopfs und eines Frauengesichts im Profil füllten die obere rechte Ecke; sie waren mit etwas ausgeführt, was einst dunkelblaue Tinte gewesen sein musste. Die Gestalten waren mit selbstbewussten Strichen wiedergegeben; keine Linie überschnitt sich mit einer anderen. Tuon studierte das Gesicht der Frau. Eine hohe Stirn, eine etwas abgeflachte Nase und volle Lippen. Sie fragte sich, wer es war. Die Frau mochte jung sein, aber Tuon war sich nicht sicher. Die Ehefrau des Propheten, oder vielleicht seine Tochter? Die Zeichnung war größer als die anderen, und der Drachenkopf war so gezeichnet, als blicke er drohend auf die Frau hinab. Tuon fragte sich, ob dies überhaupt irgendetwas zu bedeuten hatte. Unter den Zeichnungen war die mittlerweile vertraute, fließende Schrift in eng beschriebenen Spalten angeordnet, die über den Rest des Pergaments in Abschnitten verteilt waren.
Der Prophet schrieb von rechts nach links und staffelte Passagen, die etwas miteinander zu tun hatten, oft diagonal, begann am oberen Ende des Pergaments und arbeitete dann quer hinüber weiter. Tuon begann in dem Abschnitt direkt unterhalb der Zeichnung der Frau zu lesen.
Es ging nur sehr langsam voran. Sie hatte eine neuere Rolle gewählt, weil die ältesten in der Sprache der Drachen abgefasst waren, aber die Buchstaben waren dennoch so kunstvoll verschlungen, dass sie manchmal mehrere Minuten damit zubrachte, ein einziges Wort zu entziffern.
Der Prophet schrieb über die alte Stadt, die er Al Hanatoha nannte, den Ausgangspunkt von
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