Der Verrat: Thriller (German Edition)
wütende Verächtlichkeit. »Als ob irgendjemand hätte denken können, er wäre ein guter Fang, Herrgott noch mal!« Sie verschränkte die Arme fest vor der Brust und seufzte. »Das wollen wir jetzt also machen? Alte Fotos ansehen, damit ich ordentlich schimpfen kann, wie scheiße mein Leben war?«
Ich lächelte. Ich musste ihre Abwehrhaltung auflösen. »Na ja, die Leser müssen erfahren, wie scheiße es war. Nur so werden sie verstehen, welch langen Weg du gegangen bist«, sagte ich nachsichtig. »Auf die Bilder kommen wir ein anderes Mal zurück, wenn ich eine klarere Vorstellung davon habe, wo sie reinpassen. Heute will ich über deine Kindheit sprechen. Wir können sie nicht einfach auslassen und so tun, als wäre sie nie gewesen. Nicht, wenn du deinem eigenen Kind dein Leben richtig erklären willst. Ich verstehe, dass es keine tolle Zeit für dich war, aber das ist erst recht ein Grund, es hinter dich zu bringen. Dann hängt es nicht die ganze Zeit über dir.«
Sie überlegte und nickte dann. »Du hast recht. Okay. Was willst du wissen?«
Standardverfahren, Schritt eins. »Was ist deine früheste Erinnerung?«
Wie es alle machen, dachte sie einen Moment nach. »Auf dem Rummelplatz. Mit meinem Dad.«
Ich sprach mit sanfterer und leiserer Stimme. »Jetzt möchte ich, dass du die Augen schließt und diese Erinnerung als Bild vor dir siehst. Versenke dich ganz da rein, als würdest du dich ins weichste Bett zurücklegen. Lass alles los und stell dir das kleine Mädchen auf dem Rummelplatz vor. Lass die Jahre wegtreiben und lass dich rückwärtstragen durch die Zeit zu dem Ausflug zum Rummelplatz.«
Scarlett brach in Lachen aus. »Was soll das? Willst du mich hypnotisieren oder was?«
»Nicht wirklich. Ich versuche, dich dazu zu bringen, dass du dich entspannst, das ist alles. Ein starker Eindruck, an den man sich erinnert, das ist ein guter Anfang.«
»Du willst mich doch nicht beschwatzen und mich dazu bringen, alles Mögliche zu machen?«
Nach dem, was ich von Scarlett im Fernsehen gesehen hatte, war nicht viel nötig, um das zu erreichen. Aber es hätte nicht geholfen, darauf hinzuweisen. »Nein, ich versuche nur, die Sache in Gang zu bringen. Wenn du nicht mit diesem Erlebnis anfangen willst, gehen wir zu etwas anderem weiter. Aber ich warne dich jetzt schon, ich werde bestimmt darauf zurückkommen wollen. Wir könnten uns also ebenso gut jetzt damit beschäftigen.«
»Warum nicht? Ich habe ja kein Problem damit oder so. Es war einfach ein Besuch auf dem Rummelplatz.« Sie verdrehte die Augen und lehnte sich zurück, ließ den Kopf gegen eines der mit Kuhfell überzogenen Kissen sinken und schloss die Augen.
Ich wartete, und nach einer Pause wurde ihr Atem ruhiger. Als sie wieder etwas sagte, sprach sie langsamer und bedächtiger. »Ich bin auf dem Jahrmarkt. Es riecht nach Würstchen, Zwiebeln, Diesel und Zuckerwatte. Die Luft ist heiß. Ich bin oben am Himmel …«
»Fährst du auf einem Karussell?«, fragte ich leise, denn ich wollte die Stimmung nicht zerstören.
»Ich sitze bei meinem Dad auf den Schultern. Hoch oben über den Köpfen aller anderen. Es ist dunkel, weil es Nacht ist. Überall sind farbige Lichter. Es ist, als wäre ich innen in einem Regenbogen oder so was. Meine Hand steckt im Haar von meinem Dad; es ist ganz dicht und fest, und wenn ich zu sehr ziehe, ruft er, ich soll aufhören.«
»Ist deine Mum auch da?«
»Ich sehe ihren Kopf von oben, wenn ich runterschaue. Sie haben beide Dosen. Ich rieche, dass sie Bier trinken. Aber sie lachen und machen Witze, und es ist, als wären wir wie alle anderen auch.« Sie öffnete die Augen und richtete sich abrupt auf. »Deshalb erinnere ich mich daran. Dieses eine Mal fühlte ich mich nicht schäbig, als würden alle anderen auf uns runterschauen.« Bitter lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Wir waren die höllischen Nachbarn. Niemand wollte uns in der Nachbarschaft haben.«
»Aber ihr habt es trotzdem geschafft, Spaß zusammen zu haben. Auf dem Jahrmarkt.«
»Warum, denkst du, erinnere ich mich daran?« Scarlett beugte sich vor, anscheinend von echter Neugier angetrieben.
»Weil es Freude gemacht hat, nehme ich an?«
»Weil es eine totale verdammte Ausnahme war«, sagte sie bitter. »Ich habe kaum Erinnerungen an meinen Dad. Als er starb, war ich erst sechs, und die meiste Zeit dieser sechs Jahre war er im Knast. Außer damals auf dem Rummelplatz erinnere ich mich nur an ihn und meine Mum, wenn sie betrunken waren und Streit
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