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Der verruchte Spion

Der verruchte Spion

Titel: Der verruchte Spion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Celeste Bradley
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kühl. Er packte Myrtle am Arm und hielt sie in sicherer Entfernung, damit der silberne Knauf ihres Gehstockes ihn nicht mehr erreichte. Dann griff er nach einem an der Wand hängenden Klingelzug.
    Zwei Diener erschienen wie durch ein Wunder und nahmen Myrtle sanft an den Armen.
    Im Versuch, seine Würde wiederzuerlangen, zog sich Lord Liverpool mit einem Ruck die seidene Weste zurecht. Er nickte den beiden Männern zu. »Helft Mrs Teagarden zurück in ihre Gemächer. Möglicherweise braucht sie etwas zur Beruhigung. Die gute Frau ist ziemlich außer sich.«
    Willa rannte zu Myrtle. »Liebes, geht es dir gut?«
    Tränen standen der alten Frau in den Augen, und sie hielt sich im Griff der Diener kaum aufrecht. Sie flüsterte Willa etwas zu.
    Willa beugte sich tief zu ihr hinunter und gab vor, der alten Dame den Hut zurechtzurücken. Verstohlen warf sie Lord Liverpool einen Blick zu. Dieser zog an seinem Gehrock herum und war vollends damit beschäftigt, würdevoll auszusehen. »Was ist, Myrtle? Ich habe dich nicht verstanden.«
    »Du weißt gar nichts. Tu so, als wüsstest du gar nichts.«
    Dann halfen die Männer Myrtle hinweg, und Willa war allein mit dem Premierminister.
    Sie war kein guter Lügner, aber ein großartiger Heuchler. Willa gab vor, nichts mitbekommen zu haben, bevor Myrtle Lord Liverpool angriff.
    »Gütiger Himmel, Mylord! Was war denn bloß los?«
    Sie gab vor, nicht zu bemerken, wie sein Blick scharf
wurde, und sie gab vor, nicht zu zittern, als er mit diesem eisigen Blick den Flur hinunterschaute.
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
     
    So sollte es eigentlich nicht sein. Die Entfremdung sollte nur vorübergehend sein. Aber die Tatsache, dass seine Familie die Geschichte sofort akzeptiert hatte, prompt an seine Feigheit glaubte, hatte wehgetan. Es hatte ihm einen schrecklichen Stich versetzt, dass sein Vater sich so vollständig von ihm abwenden konnte, wie er es getan hatte.
    Deshalb hatte sich Nathaniel ebenfalls abgewendet. Von seinem Vater, von Daphne, von dem Aufblitzen ungeheurer Genugtuung in Basils Augen.
    Randolphs Zimmer hatte die Stille eines leeren Raumes angenommen. Bis zuletzt war seine Präsenz spürbar gewesen, selbst wenn er schlief. Doch jetzt war es anders. Nathaniel saß auf dem Stuhl neben seines Vaters Bett, auf demselben Platz, den er während der letzten Nächte immer wieder eingenommen hatte.
    »Ihr seht nicht gut aus, Sir.« Nathaniel nahm eine der verkümmerten Hände seines Vaters. »Nein, du siehst überhaupt nicht gut aus.«
    Die Hand seines Stiefvaters unterschied sich dramatisch von seiner eigenen. Obgleich Randolph erst in den Sechzigern war, hatte sein Fleisch die papierene Qualität eines viel Älteren, und man sah seine Knochen durch die faltige Haut scheinen.
    Doch es war dieselbe Hand, an der Nathaniel im Alter von sechs Jahren geschaukelt war, die seinen Hintern im Alter von zwölf zum Brennen gebracht hatte und die die seine in einem ersten Händedruck von Mann zu Mann geschüttelt hatte, als er sechzehn war.
    Er schloss die Augen und versuchte sich seinen Vater so vorzustellen, wie er ihn kannte. Gesund.

    »Wir beide haben so viel Zeit verschwendet. Ich war zu stolz. Und du zu reserviert.«
    Er nahm die Hand seines Vaters zwischen seine eigenen. Sie war kalt, und Nathaniel wollte sie wärmen.
    »Willa ist nicht wie Daphne. Gott sei Dank. Sie ist anders als alle Frauen, die ich bisher kennen gelernt habe. Erst könnte man glauben, sie wäre ein bisschen verrückt, weil sie die merkwürdigsten Dinge von sich gibt. Doch wenn man ihr erst einmal zuhört, merkt man schnell, dass sie die Welt als riesiges Geschenk betrachtet, das man ihr schön verpackt und gut verschnürt überreicht hat, und sie packt es aus – eine wunderbare Lage von Geschenkpapier nach der anderen.«
    Er schüttelte den Kopf. »Das klingt, als wäre sie ein Kind, aber sie hat schlimme Zeiten erlebt, nicht weniger schlimme als wir anderen auch. Nur hat sie beschlossen, sich nicht in ihrem Kummer zu vergraben, sondern sich über ihn zu erheben.«
    Die Hand seines Vaters war jetzt ein bisschen wärmer geworden. Nathaniel schob sie zärtlich unter die Bettdecke, setzte sich auf die Bettkante und lehnte sich vor, um die andere zu ergreifen. Jetzt, da er näher saß, sah er, dass die Lippen seines Vaters bereits bläulich verfärbt waren und dass sich sein Brustkorb kaum hob, wenn er einatmete.
    »Du wirst uns bald verlassen, nicht wahr? Ich verstehe das. Ich wollte nur nicht, dass du in

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