Der verruchte Spion
giftete Willa sie in einer überzeugenden Parodie Myrtles an, die die alte Dame so sehr zum Lachen brachte, dass sie schließlich einen Schluckauf bekam.
»Oh, Willa, du hältst mich wirklich jung.«
»Gut. Bleib bei mir, und du wirst niemals sterben.«
»Weißt du, zum ersten Mal seit vielen Jahren würde ich das gerne tun. Ich würde wahrlich gerne sehen, was aus dir wird, Liebes.« Jetzt erst bemerkte sie, was Willa die ganze Zeit schon in den Händen hielt. »Hast du mir etwas mitgebracht?«
»Ich habe hier ein Buch, das dir bestimmt gefällt.« Willa zeigte ihr den abgegriffenen Band. »Es ist eines meiner Lieblingsbücher.«
»Ach, Süße, meine Augen sind nicht mehr so gut, wie sie einmal waren.«
»Ich wollte es dir sowieso vorlesen«, beruhigte Willa sie. »Ich habe es selbst übersetzt. Wahrscheinlich könntest du meine Kritzeleien am Rand sowieso nicht entziffern.«
Myrtle reckte den Hals, um einen besseren Blick darauf zu erhaschen. »Und wovon handelt es?«
»Es ist eine wunderbare Erzählung voller Abenteuer und Intrigen.« Willa öffnete das kleine Buch und begann zu lesen: »›Jeder Herrscher braucht eine Reihe von Männern, auf die er sich verlassen kann …‹«
24. Kapitel
D as Gute daran, eine Ausbildung als Spion genossen zu haben, war, dass man eine Menge nützlicher Dinge lernte.
Der Mann schlich sich lautlos an den Kohlenschacht an der Seitenwand von Reardon House. Ein kleiner Fetzen leicht entflammbaren Stoffes, ein schnelles Streichen über den Feuerstein, sich bücken, den Deckel anheben, werfen – und rennen. Nach allem, was er in den letzten Wochen durchgemacht hatte, war er nicht besonders schnell, aber das machte keinen Unterschied. Bis sein kleines Geschenk Feuer fing, war er außer Sichtweite und bereit zum nächsten Zug.
Er ließ den Deckel des Kohlenschachtes langsam und lautlos zuschnappen, stolperte dann die Allee hinter den Stallungen entlang, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Lauter nützliche Dinge.
Nathaniel schaute bereits seit Stunden ins Feuer des Kamins in seinem Studierzimmer, aber er fand in den Flammen keine Antwort. Randolphs Tod war seit geraumer Zeit absehbar gewesen, weshalb brachte er ihn dann derart durcheinander? Offenbar war es ihm unmöglich gewesen, sich eine Welt ohne seinen Stiefvater vorzustellen …
»Er war mein Vater, verdammt!«
Er würde sich nie mehr die Mühe machen, die zutreffende Anrede zu wählen. Es gab sowieso niemanden mehr, der darauf Wert legen könnte. Randolph war ihm der einzige
Vater gewesen, das einzige Vorbild, der einzige Held, den er kannte.
Er rieb sich die Stirn und dachte an jenen Tag vor so vielen Jahren zurück. Er hatte versucht, Simon zu einem Kampf zu nötigen – oh, Gott, was war er doch als junger Mann für ein schrecklicher Kerl gewesen -, aber Simon war einfach nur davongegangen.
Also hatte Nathaniel ihn verfolgt. Simon war nicht viel älter als er und nicht so vorsichtig darauf bedacht, nicht verfolgt zu werden, wie er es vielleicht hätte sein sollen. Es war nicht einfach gewesen, und Nathaniel hätte ihn ein ums andere Mal verloren, aber das ließ ihn nur noch härter arbeiten. Er war ein Faulpelz gewesen. Wenn es einfacher gewesen wäre, wäre ihm wahrscheinlich schnell langweilig geworden, und er wäre seiner eigenen Wege gegangen. Simons Verschwiegenheit nährte Nathaniels Neugier jedoch, bis ihn schließlich nichts mehr aufzuhalten vermochte.
Nathaniel hatte gesehen, wie Simon auf ein Gebäude zusteuerte und dann direkt an der Eingangstür vorbeiging. Dann war er dem Älteren in eine Gasse gefolgt und hatte zugesehen, wie dieser mit Leichtigkeit eine Wand hochkletterte und durch ein Fenster verschwand.
Der Aufstieg war viel schwerer, als es ausgesehen hatte. Zurückblickend wunderte sich Nathaniel, dass er nicht zu Tode gestürzt war, während er nach den versteckten Tritthilfen und falschen Fensterschlössern suchte.
Er war in den Club gelangt, in einen Lagerraum. Seine eigene Kühnheit hatte ihn so weit ernüchtert, dass er beschloss, sich nur nach einem alternativen Weg hinaus umzusehen. Wenn er sich getraut hätte, hätte er den Weg aus dem Fenster genommen – aber er war nicht mutig genug.
Er schlich sich gerade durch den schäbigen Flur, als er es roch. Randolph mochte eine besondere Tabakmischung, die nur für ihn zusammengestellt wurde. Sie hatte einen unverkennbar
süßlichen Geruch. Nathaniel folgte dem Duft, und mit einem Mal war ihm klar, dass er den Ort gefunden
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