Der verruchte Spion
aus dem Gesicht gewichen.
Willa schimpfte sich eine Egoistin. Nathaniel hatte zurzeit weit Wichtigeres zu erledigen, als sich Gedanken über ihre Schlafgewohnheiten zu machen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und hakte sich bei ihm ein, als sie das Zimmer verließen. Es war dumm von ihr, sich wegen einer so trivialen Sache den Kopf zu zerbrechen. Zweifellos würde sie sich bald daran gewöhnen.
Es war nur so, dass sie sich mit getrennten Schlafzimmern eher vorkam wie eine Mätresse als wie eine Ehefrau.
Nathaniel war sich nicht sicher, was an diesem Morgen mit Willa los war. Wahrscheinlich war sie von ihrer zweiten langen Liebesnacht in Folge einfach nur müde. Dann wurde er vom Anblick des edlen Ebenholzsarges abgelenkt, der die große Vordertreppe hinuntergetragen wurde. Natürlich, die Dienstbotentreppe war zu schmal. Daran hätte er denken müssen.
Nathaniel wusste, dass er sich nichts hatte anmerken lassen, aber trotzdem griff Willa nach seiner Hand und drückte sie fest.
»Lass dir Zeit, Liebster«, murmelte sie.
Sie wusste immer, wenn ihm etwas wehtat. Er zog sie ein paar Schritte von der Eingangshalle fort. Er hielt sie fest
an sich gedrückt und ließ sich von ihr festhalten. Als der Schmerz nachließ, löste er sich von ihr und lächelte sie an. Mit einer Fingerspitze fuhr er ihr von der weichen Einbuchtung zwischen den Schlüsselbeinen über ihre seidenweiche Haut bis zum Ausschnitt ihres Kleides und erinnerte sie an ihr Versprechen. »Vergiss es nicht. Wir haben für heute Nachmittag eine Verabredung in der Bibliothek.«
Sie zitterte und musterte ihn aus ihren dunklen Augen. Sie presste sich an ihn, legte ihm eine Hand in den Nacken und zog ihn zu einem leidenschaftlichen Kuss zu sich herab.
Er kniff die Augen zusammen. »Dafür wirst du büßen, das weißt du.«
»Gerne.« Sie warf ihm eine Kusshand zu. »Jetzt geh und kümmere dich um alles da draußen. Ich sehe zu, dass hier drinnen alles klargeht.«
Nathaniel mochte ja entehrt sein, aber Willa hatte den Eindruck, dass Randolph sehr hoch geschätzt worden war. Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft waren anwesend, um ihn zur letzten Ruhe zu betten.
Sie erblickte Clara neben einem ausgesprochen gut aussehenden Mann, bei dem es sich offenbar um Lord Etheridge handelte. Auch Sir Simon sah sie. Er war in Gesellschaft einer hoch schwangeren Frau, die ungeheuer interessant aussah.
Lord Liverpool war auch da, obgleich Nathaniel nicht gerade glücklich darüber zu sein schien.
Im Hintergrund versammelte sich eine tränenreiche Dienerschaft. Alle trugen die Abzeichen eines der anwesenden Trauergäste. Ein Kutscher war ein wuschelköpfiger Riese, dessen Narben selbst die von Ren Porter verblassen ließen. Ein anderer war ein kleiner, abgerissener Mann mit kantigen Zügen. Als er seine Kappe abnahm, konnte man seine Ohren sehen, die nach oben elfenhaft spitz zuliefen.
Wie Nathaniel gebeten hatte, stand Willa bei der Familie und stützte Myrtle in ihrer Trauer. Er selbst blieb einige Meter hinter den Trauernden zurück, die auf Abstand zu ihm gingen.
Willa war so stolz auf ihn, wie er groß und aufrecht den starren Blicken und boshaftem Geflüster widerstand. Sie war auch stolz auf sein Zartgefühl, denn ihr war nur zu bewusst, dass der Aufruhr noch viel größer gewesen wäre, wenn er seinen rechtmäßigen Platz am Grab eingenommen hätte.
Er ließ seine Familie trauern – und schenkte ihnen einen Tag für die Zeremonie des Loslassens und des Schmerzes, ohne sie dabei zu stören.
Als die Zeremonie zu Ende war und die Trauergemeinde sich langsam auflöste, machten fast alle einen weiten Bogen um Nathaniel. Nur Clara nicht. Mit hoch erhobenem Kopf ging sie direkt auf ihn zu und legte ihm mitfühlend die Hand auf den Arm. Nathaniel bedeckte diese Hand kurz mit der seinen, dann löste er sie von seinem Arm und schickte Clara zurück. Clara ging zu ihrem Mann, der ganz in der Nähe auf sie gewartet hatte.
Dann glaubte Willa zu sehen, dass Lord Etheridge Nathaniel kaum merklich zunickte. Es war kaum mehr als ein mitfühlendes Senken der Augenlider. Nathaniel antwortete mit einem ebenfalls kaum erkennbaren Nicken. Neugierig geworden, begann Willa die davongehenden Trauergäste genauer zu beobachten. Zu Beginn war es sehr schwer, irgendetwas festzustellen, aber am Ende war sich Willa sicher, dass mehr als ein Mann Nathaniel mit diesem winzigen respektvollen Nicken bedachte.
Wie überaus seltsam.
Dann stach ihr etwas anderes ins Auge.
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