Der verruchte Spion
»Ist das überhaupt Eure eigene Pistole?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr habt kein bisschen damit geübt, nicht wahr? Ihr dachtet, Ihr müsstet nichts weiter tun, als hier hereinzustürmen und mit der Pistole vor ein paar Damen herumzufuchteln, und das wär’s dann gewesen.« Sie schaute ihn mitleidig an. »Kein toller Plan, wenn Ihr mich fragt.«
»Ihr wisst nicht, worüber Ihr redet!« Der Mann war inzwischen hochrot im Gesicht. »Ihr seid nichts weiter als Reardons barfüßige, ungebildete Besenstiel-Braut.«
»Ungebildet? Ungebildet?« Willa war in ihrem ganzen Leben noch nicht so sehr beleidigt worden. Sie zog sich den rechten Schuh vom Fuß und warf ihn nach dem Mann. »Ich bin nicht ungebildet!«
Er duckte sich. Der kalbslederne Slipper streifte ihn an der Schulter. Den Nächsten warf Willa viel fester. Obwohl der Mann beide Arme benutzte, um ihr Geschoss abzuwehren, traf der Schuh ihn dieses Mal direkt am Kopf.
»Ihr seid verrückt«, sagte der Mann und rieb sich verwirrt den Schädel. »Vollkommen verrückt.«
»Und Ihr seid wohl von beispielhafter geistiger Gesundheit?« Sie schnitt eine Grimasse und streckte die Hand aus. »Gebt mir meine Schuhe zurück. Ich möchte sie noch einmal nach Euch werfen.«
Der Mann hob ihre Slipper auf und hielt sie beide mit der freien Hand hinter seinen Rücken. »Niemals.« Dann erst schien ihm bewusst zu werden, dass er ein Paar weiche Damenschuhe behandelte, als wären sie eine ernstliche Bedrohung. Er warf sie fluchend zu Boden. Mit Augen, die vor Zorn schwarz schienen, richtete er erneut die Waffe auf ihr Herz. »Das Buch ist mir völlig egal. Im Moment will ich Euch einfach nur tot sehen!«
Nein, sie musste zugeben, dass er sie nicht verfehlen konnte. Die Kugel in dieser Waffe würde ihr pochendes Herz durchbohren und sie töten.
»Bastard«, flüsterte sie schwach.
»Ganz genau.« Der Mann grinste fies und zog den Hahn der Waffe mit einem Klicken zurück, das durch die Stille des Raums zu dröhnen schien.
Nathaniel zog sich lässig von Willas Schlafzimmertür zurück. Für einige lange Schritte behielt er das unbesorgte Tempo bei. Dann rannte er zu seinen eigenen Gemächern und riss das Fenster zum Garten auf.
Willas Fenster war einige Meter entfernt. Nathaniel musterte die Wand darunter. Die gewundenen Triebe des alten Efeus hatten dem Eindringling den Aufstieg erleichtert, waren aber jetzt von der Mauer gerissen und keine Hilfe mehr.
Wenn man nach dem Wirrwarr der abgebrochenen Triebe ging, grenzte es an ein Wunder, dass der Mann den Aufstieg überlebt hatte.
Eine Leiter? Nein, es dauerte viel zu lang, sie hierher zu schaffen.
Die Tür einrennen? Theoretisch eine gute Idee, aber die Türen von Reardon House bestanden aus schwerem Eichenholz. Es würde einige Versuche kosten, sie einzutreten. Inzwischen könnte Willa längst tot sein.
Kalte Angst drohte ihn zu überkommen und zu schwächen. Er würde über diese Möglichkeit erst gar nicht nachdenken. Willa würde nichts geschehen. »Sie hat doch immer Glück, erinnerst du dich?«, murmelte er vor sich hin.
Dann sprang ihm der Schatten einer dekorativen Steinarbeit ins Auge. Etwa einen Meter unterhalb der Fenster zu Willas und seinem Zimmer verlief ein schmaler, kaum fünf Zentimeter breiter Sims. Ein weiteres Band verlief etwa eineinhalb Meter darüber und wurde durch die Fenster unterbrochen.
Nathaniel zog sich in sein Zimmer zurück und wühlte in einer Schublade nach seinen Schuhen mit der weichen Sohle. Gerade als er seine Stiefel auszog und die butterweichen Lederschuhe mit den Sohlen aus indischem Gummi überstreifte, die er bei den gelegentlichen Einbrüchen zu der Zeit, bevor er die Kobra geworden war, getragen hatte, erschien Liverpool in seiner Tür.
»Gibt es irgendeinen Grund, warum ich immer noch dort unten sitze und auf das Tagebuch warte?«
Nathaniel schaute ihn nicht an. Er ging zum Fenster hinüber und setzte sich auf die Fensterbank. »Willa möchte, dass ich eine Maus für sie töte.«
»Was geht mich das an?«
»Willa liebt Mäuse.« Er schwang seine Beine ins Freie.
»Gütiger Himmel, Mann! Was tut Ihr da?«
»Ein Einbrecher ist in Willas Zimmer. Ich werde ihn töten, wie sie es wünscht.«
»Warum benutzt Ihr keinen Schlüssel?«
»Es gibt keine Schlüssel in Reardon House. Nur Schlösser an der Innenseite der Türen. Es gab eine Zeit, da fand ich das gut.« Nathaniel begann, sich aus dem Fenster zu lassen.
»Wartet!«
Er schaute zu Liverpool
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