Der verruchte Spion
Nathaniel Stonewell warf ihr einen misstrauischen Blick zu, schüttelte den Kopf und widmete seine Aufmerksamkeit wieder seinem Pferd. Ermutigt atmete Willa aus. »Das solltet Ihr aber. Der Tisch ist reich gedeckt. Alle Bewohner Derrytons sind dort und warten darauf, Euch zu beglückwünschen. Es ist ein sehr nettes Dorf, und jeder hier achtet auf seinen Nächsten.«
Obwohl es manchmal auch recht anstrengend sein konnte, dass jeder auch die geringste Peinlichkeit von einem wusste. Aber das behielt Willa für sich.
Er antwortete nicht. Stattdessen putzte er sein Pferd mit immer länger und fester werdenden Bürstenstrichen. Wie frustrierend. Der Himmel möge sie vor einem weiteren maulfaulen Mann bewahren.
Und doch genoss sie es, dem Spiel seiner Muskeln unter seinem Hemd zuzusehen, während er mit der Kardätsche arbeitete. Mit jeder Bewegung zogen sie sich unter dem Stoff zusammen und traten hervor. Wunderbar. Willa blinzelte ihre Träumereien weg und erinnerte sich an ihren Vorsatz, Nathaniel Stonewells Pläne herauszufinden.
»Woher kommt Ihr, Sir? Habt Ihr – haben wir einen weiten Weg vor uns?«
Ein Mal, dieses eine Mal nur wollte Willa weit reisen, weit weg von Derryton und dem einfachen Leben, das dem Rhythmus der Jahreszeiten folgte und den Bedürfnissen des Ackers. Sie wollte neue Orte sehen, denn alles, was weiter als zehn Meilen entfernt war, wäre neu für sie.
Nathaniel Stonewell hatte immer noch nicht geantwortet. Die Bürstenstriche wurden kürzer und ziemlich schnell, waren aber immer noch sehr kräftig. Die Bewegung ließ seinen Körper sich immer schneller beugen, und unwillkürlich wanderte Willas Blick hinunter zu seinen eng geschnittenen Hosen.
Gütiger Himmel. Was für ein Anblick.
»Willa! Gut! Du bist schon hier.«
Willa wandte sich vom bezaubernden Anblick von Nathaniel Stonewells muskulösem Hintern ab und sah Moira die Stalltür weit aufstoßen. John trat mit einem weiteren voll gestopften Packsack auf den Schultern ein. Er warf ihn zu Boden, als wiege er nicht mehr als ein Federkissen, aber er landete mit einem solch soliden dumpfen Schlag, dass selbst Nathaniel Stonewell aufsah.
»Vorsichtig, du riesiger Flegel! Das sind Willies Hochzeitsgeschenke. Schlimm genug, dass Dan hier ihre Sachen so durcheinander gebracht hat. Hat eine ziemliche Sauerei veranstaltet, der Kerl.«
»Nein, Mum! Ihr Zimmer war schon …«
»Unsinn«, schimpfte Moira. »Du solltest dich was schämen, es Willie in die Schuhe schieben zu wollen, wo sie doch so ordentlich ist.«
Zufrieden strich sich Moira den Staub von den Händen und wandte sich an Willa. »Wir haben alles für dich eingepackt, Liebes, auch die Bibel deiner Mutter.«
Willa blinzelte. Mit wachsender Bestürzung stellte sie fest, dass sie binnen weniger Minuten mit einem fremden Mann in die Welt hinausziehen würde.
»Aber … noch ein paar Stunden …« Oder Tage, Monate sogar.
»Du bist jetzt eine verheiratete Frau und gehörst zu deinem Mann.« Moira wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
Aber einfach so aufzubrechen …
Willa drehte sich um und schaute die Jungs flehentlich an, doch die erröteten nur und traten ein paar Schritte zurück. Nathaniel Stonewell könnte ihr helfen, dachte sie. Er musste nur sagen, dass sie noch eine Weile in Derryton bleiben würden.
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, nur um festzustellen, dass er den ersten Packsack bereits auf seinem Pferd festzurrte. Dick reichte ihm den anderen, und schon lebte Willa Trent nicht mehr in Derryton.
Aber sie war ja gar nicht mehr Willa Trent. Jetzt war sie Willa Stonewell. Sie bekämpfte den Schmerz darüber, dass die Leute aus dem Dorf sie offenbar nicht schnell genug loswerden konnten, schluckte die Tränen hinunter und marschierte noch einmal in ihr Zimmer.
Dort fasste sie unters Bett, hob eine lose Bodendiele an und kümmerte sich zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht darum, dass irgendjemand ihr Geheimversteck entdecken könnte. Sie zog eine winzige Elfenbeinkamee von ihrer Mutter als junges Mädchen hervor, ein vergilbtes Taschentuch aus feiner Valentiner Spitze und ein dünnes, in Seide eingebundenes Päckchen, das sie eilig in ihr Mieder steckte. Dieses Päckchen enthielt einen Liebesbrief ihres Vaters an ihre Mutter, das Tagebuch ihres Großvaters und etwas, von dem nur Moira wusste: Willas Geburtsurkunde.
Nathaniel striegelte Blunt mit mehr Kraft, als eigentlich nötig war. Er musste zugeben, dass die Dinge sich nicht wie geplant
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