Der verruchte Spion
auf die Zehenspitzen. Wo waren sie?
Es war niemand im Wasser.
»Nathaniel!« Willa schrie so laut, dass sie spürte, wie in ihrer Kehle etwas riss.
»Oh, nein. Nein!«, schluchzte Willa. Sie brachte nicht mehr als ein verzweifeltes Flüstern heraus. Lieber Gott, wenn sie ihn nun verloren hatte? Wenn ihr wunderschöner, süßer Nathaniel tot war? Schuld schlug über ihr zusammen. Wenn der Fluch Nathaniel getötet hatte, wollte auch sie nicht mehr leben.
Atemlos wandte sich Willa um und rannte in waghalsigem Tempo den mit Wurzeln übersäten Pfad zurück, der sie zu dem flachen Felsen geführt hatte. Sie hastete am schlammigen Ufer entlang, rutschte immer wieder aus, den Blick unverwandt auf die Stelle im Fluss gerichtet, wo er verschwunden war. Die Biegung war nicht mehr weit. Wenn er es doch nur bis zu den Untiefen dort schaffte …
»Bitte, bitte, bitte.« Nicht bewusst, dass ihre Stimme
kaum mehr als ein Flüstern war, betete Willa zu jeder erdenklichen Gottheit, dass Nathaniel zu ihr zurückkehren möge.
Dort.
Nathaniels vom Wasser dunkler wirkender blonder Kopf tauchte auf. Er hielt den Mann bei den Schultern und zog ihn zu den Untiefen. Es war ihnen nichts passiert.
Die beiden Männer kämpften sich zum Ufer. Nathaniel zog den anderen am Arm. Der Mann schien sehr schwach und hatte wohl auch noch ein verkrüppeltes Bein.
Willa kam bei ihnen an, als sie nur noch wenige Meter vom Ufer entfernt waren. Sie rannte ins Wasser, um den Mann an der anderen Seite zu stützen. Gemeinsam halfen sie ihm die grasbewachsene Uferböschung hinauf, wo er zusammenbrach und nach Luft schnappte.
Sofort warf sich Willa in Nathaniels Arme. Sie wollte ihm erzählen, welche Sorgen sie sich um ihn gemacht hatte und wie sehr ihr alles Leid tat, aber sie brachte nichts als ein krächzendes Wispern über die Lippen.
Er schloss sie in die Arme. Willa drückte ihr Gesicht in seine kalte, nasse Halsbeuge und zitterte vor Erleichterung. Er war in Sicherheit.
»Schschsch … Es geht uns gut, Wiesenblume, es geht uns allen gut.« Nathaniel hielt sie fest und drückte seine Wange in ihr triefendes Haar. War es erst wenige Augenblicke her, dass er sie seinen Namen hatte rufen hören?
Pure Angst hatte ihn ergriffen. Er hatte sich in Richtung Fluss geworfen, ein Stück Treibholz auf dem Weg ergriffen. Als er sie dort in dem reißenden Wasser gesehen hatte, wie sie sich an den Felsen klammerte, hatte sein Herz aufgehört zu schlagen.
Die Anwesenheit des seltsamen narbengesichtigen Mannes verstand er überhaupt nicht. Er konnte nur daran denken, dass Willa gerettet war.
Als Willa aufhörte, in seinen Armen zu zittern, löste sich Nathaniel ein wenig von ihr und schaute ihr ins Gesicht. Mit beiden Händen strich er ihr das Haar zurück und suchte nach Anzeichen einer Verletzung, aber abgesehen davon, dass sie klatschnass war, schien sie in tadellosem Zustand.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber nichts als ein heiseres Krächzen zustande.
»Was ist mit deiner Stimme passiert?«
»Sie hat sie beim Schreien verloren«, grunzte der Mann auf dem Boden. »Hab ich schon mal im Lazarett erlebt. Verletzter Soldat. Hat sich die Stimme aus dem Leib geschrien, bevor er starb.«
Nathaniel wandte sich zu ihm. Der Kerl sah schrecklich aus. Vernarbtes Gesicht, verkrüppelter Arm, lahmes Bein. Er war im Lazarett gewesen, wahrscheinlich selbst Soldat. Dieser Veteran hatte einen hohen Preis für sein Land bezahlt. »Wer seid Ihr? Und wie seid Ihr mit Willa im Wasser gelandet?«
»Ich hab sie wohl erschreckt. Ich wollt’s nicht, aber sie hat mich nicht kommen gehört. Ich wollte ihr helfen, aber ich kann nicht mehr so gut schwimmen wie einst«, sagte er bitter.
Für einen kurzen Moment fragte sich Nathaniel, ob der Mann wohl aus Wakefield stammte. Aber selbst wenn es so war, so war er zum Zeitpunkt der Schlammschlacht nicht dort gewesen.
Sorge um Willa vertrieb den Gedanken. Nathaniel nahm sie auf den Arm. »Wir müssen dich an ein Feuer schaffen, Wiesenblume.« Er warf dem Mann einen argwöhnischen Blick zu. »Ihr seid ebenfalls willkommen, wenn Ihr wollt.« Falls sein Ton etwas nachtragend war, so war er nicht in der Stimmung, sich dafür zu entschuldigen.
»Gerne.«
Nachdem Nathaniel voller Hast ein Feuer in Gang gebracht hatte, sank Willa dankbar neben den Flammen nieder. Er brachte Blunts Decke und legte sie ihr um die Schultern. Willa fand Trost in dem gewohnten Geruch nach Pferd. Sie konnte dieses erschöpfte, elende
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