Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
Es schien ja nie- mand mehr im Zimmer zu sein, vielleicht war Dela- marche mit Brunelda ausgegangen und Karl hatte schon völlige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein Wächterhund benahm, war ja endgiltig abgeschüttelt.
       Da ertönten aus der Ferne von der Gasse her stoßwei- se Trommeln und Trompeten. Einzelne Rufe vieler Leu- te sammelten sich bald zu einem allgemeinen Schreien. Karl drehte den Kopf und sah wie sich alle Balkone von neuem belebten. Langsam erhob er sich, er konnte sich nicht ganz aufrichten und mußte sich schwer gegen das Geländer drücken. Unten auf den Trottoiren marschier- ten junge Burschen mit großen Schritten, ausgestreckten Armen, die Mützen in der erhobenen Hand, die Gesich- ter zurückgewendet. Die Fahrbahn blieb noch frei. Ein- zelne schwenkten auf hohen Stangen Lampione, die von einem gelblichen Rauch umhüllt waren. Gerade traten die Trommler und Trompeter in breiten Reihen ans Licht und Karl staunte über ihre Menge, da hörte er hinter sich Stimmen, drehte sich um und sah den Dela- marche den schweren Vorhang heben und dann aus dem Zimmerdunkel Brunelda treten, im roten Kleid, mit ei- nem Spitzenüberwurf um die Schultern, einem dunklen Häubchen über dem wahrscheinlich unfrisierten und bloß aufgehäufen Haar dessen Enden hie und da her- vorsahen. In der Hand hielt sie einen kleinen ausge- spannten Fächer, bewegte ihn aber nicht sondern drück- te ihn eng an sich.
       Karl schob sich am Geländer entlang zur Seite um den beiden Platz zu machen. Gewiß würde ihn niemand zum Hierbleiben zwingen, und wenn es auch Delamarche versuchen sollte, Brunelda würde ihn auf seine Bitte so- fort entlassen. Sie konnte ihn ja gar nicht leiden, seine Augen erschreckten sie. Aber als er einen Schritt zur Tür hin machte, hatte sie es doch bemerkt und sagte: „Wohin denn Kleiner?" Karl stockte vor den strengen Blicken des Delamarche und Brunelda zog ihn zu sich. „Willst Du Dir denn nicht den Aufzug unten ansehn?" sagte sie und schob ihn vor sich an das Geländer. „Weißt Du, um was es sich handelt?" hörte sie Karl hinter sich sagen und machte ohne Erfolg eine unwillkürliche Bewegung, um sich ihrem Druck zu entziehn. Traurig sah er auf die Gasse hinunter, als sei dort der Grund seiner Traurig- keit.
    Delamarche stand zuerst mit gekreuzten Armen hinter Brunelda, dann lief er ins Zimmer und brachte Brunelda den Operngucker. Unten war hinter den Musikanten der Hauptteil des Aufzuges erschienen. Auf den Schul- tern eines riesenhafen Mannes saß ein Herr, von dem man in dieser Höhe nichts anderes sah, als seine matt schimmernde Glatze, über der er seinen Zylinderhut ständig grüßend hoch erhoben hielt. Rings um ihn wur- den offenbar Holztafeln getragen, die vom Balkon aus gesehen ganz weiß erschienen; die Anordnung war der- artig getroffen, daß diese Plakate von allen Seiten sich förmlich an den Herrn anlehnten, der aus ihrer Mitte hoch hervorragte. Da alles im Gange war, lockerte sich diese Mauer von Plakaten immerfort und ordnete sich auch immerfort von neuem. Im weitern Umkreis war um den Herrn die ganze Breite der Gasse, wenn auch, soweit man im Dunkel schätzen konnte, auf eine unbe- deutende Länge hin, von Anhängern des Herrn ange- füllt, die sämtlich in die Hände klatschten und wahr- scheinlich den Namen des Herrn, einen ganz kurzen, aber unverständlichen Namen, in einem getragenen Ge- sänge verkündeten. Einzelne, die geschickt in der Menge verteilt waren, hatten Automobillaternen mit äußerst starkem Licht, das sie die Häuser auf beiden Seiten der Straße langsam auf- und abwärts führten. In Karls Höhe störte das Licht nicht mehr, aber auf den untern Balko- nen sah man die Leute, die davon bestrichen wurden, eiligst die Hände an die Augen führen.
    Delamarche erkundigte sich auf die Bitte Bruneldas bei den Leuten auf dem Nachbarbalkon, was die Veran- staltung zu bedeuten habe. Karl war ein wenig neugierig, ob und wie man ihm antworten würde. Und tatsächlich mußte Delamarche dreimal fragen, ohne eine Antwort zu bekommen. Er beugte sich schon gefährlich über das Geländer, Brunelda stampfe vor Ärger über die Nach- barn leicht auf, Karl fühlte ihr Knie. Endlich kam doch irgendeine Antwort, aber gleichzeitig fingen auf diesem Balkon, der gedrängt voll Menschen war, alle laut zu lachen an. Daraufin schrie Delamarche etwas hinüber, so laut, daß, wenn nicht augenblicklich in der ganzen Gasse viel Lärm gewesen wäre, alles ringsherum

Weitere Kostenlose Bücher