Der Verschollene
erstaunt hätte auforchen müssen. Jedenfalls hatte es die Wir- kung, daß das Lachen unnatürlich bald sich legte. „Es wird morgen ein Richter in unserem Bezirk ge- wählt und der, den sie unten tragen, ist ein Kandidat", sagte Delamarche, vollkommen ruhig zu Brunelda zu- rückkehrend. „Nein!" rief er dann und klopfe liebko- send Brunelda auf den Rücken, „wir wissen schon gar nicht mehr, was in der Welt vorgeht."
„Delamarche", sagte Brunelda, auf das Benehmen der Nachbarn zurückkommend, „wie gern wollte ich über- siedeln, wenn es nicht so anstrengend wäre. Ich darf es mir aber leider nicht zutrauen." Und unter großen Seuf- zern, unruhig und zerstreut, nestelte sie an Karls Hemd, der möglichst unauffällig immer wieder diese kleinen fetten Händchen wegzuschieben suchte, was ihm auch leicht gelang, denn Brunelda dachte nicht an ihn, sie war mit ganz anderen Gedanken beschäfigt.
Aber auch Karl vergaß bald Brunelda und duldete die Last ihrer Arme auf seinen Achseln, denn die Vorgänge auf der Straße nahmen ihn sehr in Anspruch. Auf An- ordnung einer kleinen Gruppe gestikulierender Männer, die knapp vor dem Kandidaten marschierten und deren Unterhaltungen eine besondere Bedeutung haben muß- ten, denn von allen Seiten sah man lauschende Gesichter sich ihnen zuneigen, wurde unerwarteterweise vor dem Gasthaus Halt gemacht. Einer dieser maßgebenden Männer machte mit erhobener Hand ein Zeichen, das sowohl der Menge als auch dem Kandidaten galt. Die Menge verstummte und der Kandidat, der sich auf den Schultern seines Trägers mehrmals aufzustellen suchte und mehrmals in den Sitz zurückfiel, hielt eine kleine Rede, während welcher er seinen Zylinder in Windeseile hin- und herfahren ließ. Man sah das ganz deutlich, denn während seiner Rede waren alle Automobillaternen auf ihn gerichtet worden, so daß er in der Mitte eines hellen Sternes sich befand.
Nun erkannte man aber auch schon das Interesse, wel- ches die ganze Straße an der Angelegenheit nahm. Auf den Balkonen, die von Parteigängern des Kandidaten be- setzt waren, fiel man mit in das Singen seines Namens ein und ließ die weit über das Geländer vorgestreckten Hände maschinenmäßig klatschen. Auf den übrigen Bal- konen, die sogar in der Mehrzahl waren, erhob sich ein starker Gegengesang, der allerdings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich um die Anhänger verschiede- ner Kandidaten handelte. Dagegen verbanden sich wei- terhin alle Feinde des anwesenden Kandidaten zu einem allgemeinen Pfeifen und sogar Grammophone wurden vielfach wieder in Gang gesetzt. Zwischen den einzelnen Balkonen wurden politische Streitigkeiten mit einer durch die nächtliche Stunde verstärkten Erregung ausge- tragen. Die meisten waren schon in Nachtkleidern und hatten nur Überröcke umgeworfen, die Frauen hüllten sich in große dunkle Tücher, die unbeachteten Kinder kletterten beängstigend auf den Einfassungen der Balko- ne umher und kamen in immer größerer Zahl aus den dunklen Zimmern, in denen sie schon geschlafen hatten, hervor. Hie und da wurden einzelne unkenntliche Ge- genstände von besonders Erhitzten in der Richtung ihrer Gegner geschleudert, manchmal gelangten sie an ihr Ziel, meist aber fielen sie auf die Straße herab, wo sie of ein Wutgeheul hervorriefen. Wurde den führenden Män- nern unten der Lärm zu arg, so erhielten die Tromm- ler und Trompeter den Aufrag, einzugreifen, und ihr schmetterndes, mit ganzer Kraf ausgeführtes, nicht en- denwollendes Signal unterdrückte alle menschlichen Stimmen bis zu den Dächern der Häuser hinauf. Und immer, ganz plötzlich – man glaubte es kaum – hörten sie auf, worauf die hiefür offenbar eingeübte Menge auf der Straße in die für einen Augenblick eingetretene allge- meine Stille ihren Parteigesang emporbrüllte – man sah im Lichte der Automobillaternen den Mund jedes Ein- zelnen weit geöffnet – bis dann die inzwischen zur Be- sinnung gekommenen Gegner zehnmal so stark wie frü- her aus allen Baikonen und Fenstern hervorschrien und die Partei unten nach ihrem kurzen Sieg zu einem für die- se Höhe wenigstens gänzlichen Verstummen brachten. „Wie gefällt es dir, Kleiner?" fragte Brunelda, die sich eng hinter Karl hin- und herdrehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu übersehen. Karl antwortete nur durch Kopfnicken. Nebenbei bemerkte er, wie Robinson dem Delamarche eifrig verschiedene Mitteilungen offenbar über Karls Verhalten machte, denen aber Delamarche keine
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