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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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Hände: „Jetzt da es sich herausge- stellt hat, daß Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie z. B. Lust Lifjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bißchen herum- gekommen sind, werden Sie wissen daß es nicht beson- ders leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen, man sieht Sie im- mer, man gibt Ihnen kleine Aufräge, kurz, Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelan- gen. Für alles übrige lassen Sie mich sorgen!" „Lifjunge möchte ich ganz gerne sein", sagte Karl nach einer klei- nen Pause. Es wäre ein großer Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Lifjungen mit Rücksicht auf seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grund gewesen, sich der fünf Gymnasialklas- sen zu schämen. Übrigens hatten die Lifjungen Karl immer gefallen, sie waren ihm wie der Schmuck der Ho- tels vorgekommen. „Sind nicht Sprachenkenntnisse er- forderlich?" fragte er noch. „Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen." „Eng- lisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt", sagte Karl, er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. „Das spricht schon genü- gend für Sie", sagte die Oberköchin. „Wenn ich daran denke, welche Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon seine dreißig Jahre her. Ge- rade gestern habe ich davon gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag." Und sie suchte lächelnd den Eindruck von Karls Mienen abzulesen, den die Würde dieses Alters auf ihn machte. „Dann wünsche ich Ihnen viel Glück", sagte Karl. „Das kann man im- mer brauchen", sagte sie, schüttelte Karl die Hand und wurde wieder halb traurig, über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.
       „Aber ich halte Sie hier auf", rief sie dann. „Und Sie sind gewiß sehr müde und wir können auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in Ihr Zimmer führen." „Ich habe noch eine Bitte Frau Oberköchin", sagte Karl im An- blick des Telephonkastens der auf einem Tische stand. Es ist möglich, daß mir morgen, vielleicht sehr früh, meine frühern Kameraden eine Photographie bringen, die ich dringend brauche. Wären Sie so freundlich und würden Sie dem Portier telephonieren, er möchte die Leute zu mir schicken oder mich holen lassen." „Ge- wiß", sagte die Oberköchin, „aber würde es nicht genü- gen, wenn er ihnen die Photographie abnimmt? Was ist es denn für eine Photographie, wenn man fragen darf?" Es ist die Photographie meiner Eltern", sagte Karl, nein ich muß mit den Leuten selbst sprechen." Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab telephonisch in die Portiersloge den entsprechenden Befehl, wobei sie
    536 als Zimmernummer Karls nannte.
    Sie giengen dann durch eine der Eingangstüre entge- gengesetzte Tür auf einen kleinen Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein kleiner Lifjunge schlafend lehnte. „Wir können uns selbst bedienen", sagte die Oberköchin leise und ließ Karl in den Aufzug eintreten. „Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden ist eben ein wenig zu viel für einen solchen Jungen", sagte sie dann während sie aufwärts fuhren. „Aber es ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieser kleine Junge z. B. er ist auch erst vor einem halben Jahr mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein Italiener. Jetzt sieht es aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläf im Dienst ein, trotzdem er von Natur sehr bereitwillig ist – aber er muß nur noch ein halbes Jahr hier oder irgendwo an- ders in Amerika dienen und hält alles mit Leichtigkeit aus und in fünf Jahren wird er ein starker Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein kräfiger Junge. Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?" „Ich werde nächsten Monat sechzehn", antwortete Karl. „Sogar erst sechzehn!" sagte die Oberköchin. „Also nur Mut!"
       Oben führte sie Karl in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine schiefe Wand hatte, im übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glühlampen sich sehr wohnlich zeigte.

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