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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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„Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung", sagte die Oberköchin, „es ist nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die aber aus drei Zimmern besteht, so daß Sie mich nicht im geringsten stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so daß Sie ganz ungeniert bleiben. Morgen als neuer Hotelangestellter werden Sie natürlich Ihr eigenes Zim- merchen bekommen. Wären Sie mit Ihren Kame- raden gekommen, dann hätte ich Ihnen in der gemein- samen Schlafammer der Hausdiener aufetten lassen, aber da Sie allein sind, denke ich, daß es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch nur auf einem Sopha schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl damit Sie sich für den Dienst kräfigen. Er wird morgen noch nicht zu streng sein." „Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit." „Warten Sie", sagte sie beim Ausgang stehen bleibend, „da wären Sie aber bald geweckt worden." Und sie gieng zu der einen Seiten- tür des Zimmers, klopfe und rief: „Terese!" „Bitte, Frau Oberköchin", meldete sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin. „Wenn Du mich früh wecken gehst, so mußt Du über den Gang gehn, hier im Zimmer schläf ein Gast. Er ist totmüde." Sie lächelte Karl zu, während sie das sagte. „Hast Du verstanden?" „Ja Frau Oberköchin." „Also dann gute Nacht!" „Gute Nacht wünsch ich."
       „Ich schlafe nämlich", sagte die Oberköchin zur Erklä- rung, „seit einigen Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meiner frühern Sorgen sein, die mir diese Schlaf- losigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh ein- schlafe kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein muß, muß ich mich wecken lassen undzwar besonders vorsichtig, damit ich nicht noch nervöser werde als ich schon bin. Und da weckt mich eben die Terese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles und ich komme gar nicht weg. Gute Nacht!" Und trotz ihrer Schwere huschte sie fast aus dem Zimmer.
       Karl freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen. Und behaglichere Umgebung konn- te er für einen langen ungestörten Schlaf gar nicht wün- schen. Das Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein Wohnzimmer oder richtiger ein Repräsentationszimmer der Oberköchin und ein Waschtisch war ihm zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht, aber dennoch fühlte sich Karl nicht als Ein- dringling, sondern nur desto besser versorgt. Sein Koffer war richtig hergestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern, über den eine großmaschi- ge wollene Decke gezogen war, standen verschiedene Photographien in Rahmen und unter Glas, bei der Be- sichtigung des Zimmers blieb Karl dort stehn und sah sie an. Es waren meist alte Photographien und stellten in der Mehrzahl Mädchen dar, die in unmodernen unbe- haglichen Kleidern, mit locker aufgesetzten kleinen aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit den Blicken auswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Karl besonders das Bild eines jungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar dastand und voll von einem stolzen aber unterdrückten Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Photographie nachträglich vergoldet worden. Alle diese Photogra- phien stammten wohl noch aus Europa, man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen können, aber Karl wollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diese Photographien hier standen, so hatte er auch die Photographie seiner Eltern in seinem künfigen Zimmer aufstellen mögen.
       Gerade streckte er sich nach einer gründlichen Wa- schung des ganzen Körpers, die er seiner Nachbarin we- gen möglichst leise durchzuführen sich bemüht hatte, im Vorgenuß des Schlafes auf seinem Kanapee, da glaubte er ein schwaches Klopfen an einer Türe zu hören. Man konnte nicht gleich feststellen, an welcher Tür es war, es konnte auch bloß ein zufälliges Geräusch sein. Es wie- derholte sich auch nicht gleich und Karl schlief schon fast, als es wieder erfolgte. Aber nun war kein Zweifel mehr, daß es ein Klopfen war und von der Tür der Schreibmaschinistin herkam. Karl lief auf den Fußspit- zen zur Tür hin und

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