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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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nur Kinder spielten auf den leeren Treppen. An einem Geländer stand ein kleines Mädchen und weinte, daß ihr vor Tränen das ganze Gesicht glänzte. Kaum hatte sie Dela- marche bemerkt als sie mit offenem Mund nach Luf schnappend die Treppe hinauflief und sich erst hoch oben beruhigte, als sie nach häufigem Umdrehn sich überzeugt hatte, daß ihr niemand folge oder folgen wol- le. „Die habe ich vor einem Augenblick niedergerannt", sagte Delamarche lachend und drohte ihr mit der Faust, worauf sie schreiend weiter hinauflief.
       Auch die Höfe, durch die sie kamen, waren fast gänz- lich verlassen. Nur hie und da schob ein Geschäfsdiener einen zweirädrigen Karren vor sich her, eine Frau füllte an der Pumpe eine Kanne mit Wasser, ein Briefräger durchquerte mit ruhigen Schritten den ganzen Hof, ein alter Mann mit weißem Schnauzbart saß mit überge- schlagenen Beinen vor einer Glastür und rauchte eine Pfeife, vor einem Speditionsgeschäf wurden Kisten abgeladen, die unbeschäfigten Pferde drehten gleichmü- tig die Köpfe, ein Mann in einem Arbeitsmantel über- wachte mit einem Papier in der Hand die ganze Arbeit, in einem Bureau war das Fenster geöffnet und ein Ange- stellter, der an seinem Schreibpult saß, hatte sich von ihm abgewendet und sah nachdenklich hinaus, wo gera- de Karl und Delamarche vorübergiengen.
    „Eine ruhigere Gegend kann man sich gar nicht wün- schen", sagte Delamarche. „Am Abend ist paar Stunden lang großer Lärm, aber während des Tages geht es hier musterhaf zu." Karl nickte, ihm schien die Ruhe zu groß zu sein. „Ich könnte gar nicht anderswo wohnen", sagte Delamarche, „denn Brunelda verträgt absolut kei- nen Lärm. Kennst Du Brunelda? Nun Du wirst sie ja sehn. Jedenfalls empfehle ich Dir, Dich möglichst still aufzuführen."
    Als sie zu der Treppe kamen, die zur Wohnung des Delamarche führte, war das Automobil bereits wegge- fahren und der Bursche mit der zerfressenen Nase mel- dete, ohne über Karls Wiedererscheinen irgendwie zu staunen, er habe Robinson die Treppe hinaufgetragen. Delamarche nickte ihm bloß zu, als sei er sein Diener, der eine selbstverständliche Pflicht erfüllt habe und zog Karl, der ein wenig zögerte und auf die sonnige Straße sah, mit sich die Treppe hinauf. „Wir sind gleich oben", sagte Delamarche einigemale während des Treppenstei- gens, aber seine Voraussage wollte sich nicht erfüllen, immer wieder setzte sich an eine Treppe eine neue in nur unmerklich veränderter Richtung an. Einmal blieb Karl sogar stehn, nicht eigentlich vor Müdigkeit, aber vor Wehrlosigkeit gegenüber dieser Treppenlänge. „Die Wohnung liegt ja sehr hoch", sagte Delamarche, als sie weitergiengen, „aber auch das hat seine Vorteile. Man geht sehr selten aus, den ganzen Tag ist man im Schlaf- rock, wir haben es sehr gemütlich. Natürlich kommen in diese Höhe auch keine Besuche herauf." „Woher sollten denn die Besuche kommen", dachte Karl.
       Endlich erschien auf einem Treppenabsatz Robinson vor einer geschlossenen Wohnungstür und nun waren sie angelangt; die Treppe war noch nicht einmal zu Ende sondern führte im Halbdunkel weiter, ohne daß irgend- etwas auf ihren baldigen Abschluß hinzudeuten schien. „Ich habe es mir ja gedacht", sagte Robinson leise, als bedrückten ihn noch Schmerzen, „Delamarche bringt ihn! Roßmann, was wärest Du ohne Delamarche!" Ro- binson stand in Unterkleidung da und suchte sich nur so weit als es möglich war in die kleine Bettdecke einzu- wickeln, die man ihm aus dem Hotel occidental mitgege- ben hatte, es war nicht einzusehn, warum er nicht in die Wohnung gieng statt hier vor möglicherweise vorüber- kommenden Leuten sich lächerlich zu machen. „Schläf sie?" fragte Delamarche. „Ich glaube nicht", sagte Ro- binson, „aber ich habe doch lieber gewartet, bis Du kommst." „Zuerst müssen wir schauen ob sie schläf", sagte Delamarche und beugte sich zum Schlüsselloch. Nachdem er lange unter verschiedenartigen Kopfdre- hungen hindurchgeschaut hatte, erhob er sich und sagte: Man sieht sie nicht genau, das Rouleau ist herunterge- lassen. Sie sitzt auf dem Kanapee, vielleicht schläf sie." Ist sie denn krank?" fragte Karl, denn Delamarche stand da, als bitte er um Rat. Nun aber fragte er in scharfem Tone zurück: „Krank?" „Er kennt sie ja nicht", sagte Robinson entschuldigend.
       Ein paar Türen weiter waren zwei Frauen auf den Korridor getreten, sie wischten die Hände an ihren Schürzen rein, sahen auf

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