Der Verschollene
Worte so dankbar, daß er immer in undeutlichen Gedanken an diese end- lose Treppe, die er nun vielleicht gleich wieder hätte abwärtssteigen müssen, über den auf seiner Decke fried- lich schlafenden Robinson hinwegtrat und trotz alles är- gerlichen Händefuchtelns des Delamarche sagte: „Ich danke Ihnen jedenfalls dafür, daß Sie mich ein wenig noch hier lassen wollen. Ich habe wohl schon vierund- zwanzig Stunden nicht geschlafen, dabei genug gearbei- tet und verschiedene Aufregungen gehabt. Ich bin schrecklich müde. Ich weiß gar nicht recht, wo ich bin. Wenn ich aber ein paar Stunden geschlafen habe können Sie mich ohne jede sonstige Rücksichtnahme fortschik- ken und ich werde gerne gehn." „Du kannst überhaupt hier bleiben", sagte die Frau und fügte ironisch hinzu: Platz haben wir ja in Überfluß, wie Du siehst." „Du mußt also fortgehn", sagte Delamarche, „wir können Dich nicht brauchen." „Nein, er soll bleiben", sagte die Frau nun wieder im Ernste. Und Delamarche sagte zu Karl wie in Ausführung dieses Wunsches: „Also leg Dich schon irgendwo hin." „Er kann sich auf die Vor- hänge legen, aber er muß sich die Stiefel ausziehn, damit er nichts zerreißt." Delamarche zeigte Karl den Platz, den sie meinte. Zwischen der Türe und den drei Schrän- ken war ein großer Haufen von verschiedenartigsten Fenstervorhängen hingeworfen. Wenn man alle regelmä- ßig zusammengefaltet, die schweren zu unterst, und weiter hinauf die leichtern gelegt und schließlich die ver- schiedenen in den Haufen gesteckten Bretter und Holz- ringe herausgezogen hätte, so wäre es ein erträgliches Lager geworden, so war es nur eine schaukelnde und gleitende Masse, auf die sich aber Karl trotzdem augen- blicklich legte, denn zu besondern Schlafvorbereitungen war er zu müde und mußte sich auch mit Rücksicht auf seine Gastgeber hüten, viel Umstände zu machen. Er war schon fast im eigentlichen Schlafe, da hörte er einen lauten Schrei, erhob sich und sah die Brunelda aufrecht auf dem Kanapee sitzen, die Arme weit ausbrei- ten und Delamarche, der vor ihr kniete, umschlingen. Karl, dem der Anblick peinlich war, lehnte sich wieder zurück und versenkte sich in die Vorhänge zur Fortset- zung des Schlafes. Daß er hier auch nicht zwei Tage aushalten würde, schien ihm klar zu sein, desto nötiger aber war es sich zuerst gründlich auszuschlafen, um sich dann bei völligem Verstande schnell und richtig ent- schließen zu können.
Aber Brunelda hatte schon Karls vor Müdigkeit groß aufgerissene Augen, die sie schon einmal erschreckt hat- ten, bemerkt und rief: „Delamarche, ich halte es vor Hitze nicht aus, ich brenne, ich muß mich ausziehn, ich muß baden, schick die zwei aus dem Zimmer, wohin Du willst, auf den Gang, auf den Balkon, nur daß ich sie nicht mehr sehe. Man ist in seiner eigenen Wohnung und immerfort gestört. Wenn ich mit Dir allein wäre, Dela- marche. Ach Gott, sie sind noch immer da! Wie dieser unverschämte Robinson sich da in Gegenwart einer Da- me in seiner Unterkleidung streckt. Und wie dieser fremde Junge, der mich vor einem Augenblick ganz wild angeschaut hat, sich wieder gelegt hat um mich zu täu- schen. Nur weg mit ihnen, Delamarche, sie sind mir eine Last, sie liegen mir auf der Brust, wenn ich jetzt um- komme, ist es ihretwegen."
„Sofort sind sie draußen, zieh Dich nur schon aus", saete Delamarche, gieng zu Robinson hin und schüttelte ihn mit dem Fuß, den er ihm auf die Brust setzte. Gleichzeitig rief er Karl zu: „Roßmann, aufstehn! Ihr müßt beide auf den Balkon! Und wehe Euch wenn Ihr früher hereinkommt, ehe man Euch ruf! Und jetzt flink, Robinson" – dabei schüttelte er Robinson stärker „und Du Roßmann, gib Acht, daß ich nicht auch über Dich komme" – dabei klatschte er laut zweimal in die Hände. „Wie lang das dauert!" rief Brunelda auf dem Kanapee, sie hatte beim Sitzen die Beine weit auseinan- dergestellt, um ihrem übermäßig dicken Körper mehr Raum zu verschaffen, nur mit größter Anstrengung, un- ter vielem Schnaufen und häufigem Ausruhn, konnte sie sich soweit bücken um ihre Strümpfe am obersten Ende zu fassen und ein wenig herunterzuziehn, gänzlich aus- ziehn konnte sie sie nicht, das mußte Delamarche besor- gen auf den sie nun ungeduldig wartete.
Ganz stumpf vor Müdigkeit war Karl von dem Hau- fen heruntergekrochen und gieng langsam zur Balkontü- re, ein Stück Vorhangstoffes hatte sich ihm um den Fuß gewickelt und er schleppte es
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