Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
gleichgültig mit. In seiner Zerstreutheit sagte er sogar, als er an Brunelda vorüber- gieng: „Ich wünsche gute Nacht" und wanderte dann an Delamarche vorbei, der den Vorhang der Balkontüre ein wenig beiseite zog auf den Balkon hinaus. Gleich hinter Karl kam Robinson wohl nicht minder schläfrig, denn er summte vor sich hin: „Immerfort maltraitiert man einen! Wenn Brunelda nicht mitkommt, gehe ich nicht auf den Balkon." Aber trotz dieser Versicherung giene er ohne jeden Widerstand heraus, wo er sich, da Karl schon in den Lehnstuhl gesunken war, sofort auf den Steinboden legte.
    Als Karl erwachte war es schon Abend, die Sterne
    standen schon am Himmel, hinter den hohen Häusern der gegenüberliegenden Straßenseite stieg der Schein des Mondes empor. Erst nach einigem Umherschauen in der unbekannten Gegend, einigem Aufatmen in der kühlen erfrischenden Luf wurde sich Karl dessen bewußt wo er war. Wie unvorsichtig war er gewesen, alle Ratschläge der Oberköchin, alle Warnungen Tereses, alle eigenen Befürchtungen hatte er vernachlässigt, saß hier ruhig auf dem Balkon des Delamarche und hatte hier gar den hal- ben Tag verschlafen, als sei nicht hier hinter dem Vor- hang Delamarche, sein großer Feind. Auf dem Boden wand sich der faule Robinson und zog Karl am Fuße, er schien ihn auch auf diese Weise geweckt zu haben, denn er sagte: „Du hast einen Schlaf Roßmann! Das ist die sorglose Jugend. Wie lange willst Du denn noch schla- fen. Ich hätte Dich ja noch schlafen lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden zu langweilig und zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte Dich steh ein wenig auf, ich habe da unten im Sessel drin etwas zum Essen aufgehoben, ich möchte es gern herausziehn. Du bekommst dann auch etwas." Und Karl, der aufstand, sah nun zu, wie Robinson, ohne aufzustehn, sich auf den Bauch herüberwälzte und mit ausgestreckten Händen unter dem Sessel eine versilberte Schale hervorzog, wie sie etwa zum Aufewahren von Visitkarten dient. Auf dieser Schale lag aber eine halbe ganz schwarze Wurst, einige dünne Cigaretten, eine geöffnete aber noch gut gefüllte und von Öl überfließende Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und zu einem Ballen ge- wordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes Stück Brot und eine Art Parfümflasche, die aber etwas anderes als Parfüm zu enthalten schien, denn Robinson zeigte mit besonderer Genugtuung auf sie und schnalzte zu Karl hinauf. „Siehst Du Roßmann", sagte Robinson, während er Sardine nach Sardine herunterschlang und hie und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch reinig- te, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hat- te. „Siehst Du Roßmann, so muß man sich sein Essen aufeben, wenn man nicht verhungern will. Du, ich bin ganz bei Seite geschoben. Und wenn man immerfort als Hund behandelt wird denkt man schließlich man ists wirklich. Gut, daß Du da bist, Roßmann, ich kann we- nigstens mit jemandem reden. Im Haus spricht ja nie- mand mit mir. Wir sind verhaßt. Und alles wegen der Brunelda. Sie ist ja natürlich ein prächtiges Weib. Du – " und er winkte Karl zu sich herab um ihm zuzuflüstern – ich habe sie einmal nackt gesehn. Oh!" – und in der Erinnerung an diese Freude fieng er an, Karls Beine zu drücken und zu schlagen, bis Karl ausrief: „Robin- son Du bist ja verrückt", seine Hände packte und zurück- stieß.
    „Du bist eben noch ein Kind, Roßmann", sagte Ro- binson, zog einen Dolch, den er an einer Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm die Dolchkappe ab und zerschnitt die harte Wurst. „Du mußt noch viel zulernen. Bist aber bei uns an der richtigen Quelle. Setz Dich doch. Willst Du nicht auch etwas essen. Nun viel- leicht bekommst Du Appetit, wenn Du mir zuschaust. Trinken willst Du auch nicht? Du willst aber rein gar nichts. Und gesprächig bist Du gerade auch nicht beson- ders. Aber es ist ganz gleichgültig, mit wem man auf dem Balkon ist, wenn nur überhaupt jemand da ist. Ich bin nämlich sehr of auf dem Balkon. Das macht der Brunelda solchen Spaß. Es muß ihr nur etwas einfallen, einmal ist ihr kalt, einmal heiß, einmal will sie schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie das Mieder öffnen, einmal will sie es anziehn und da werde ich im- mer auf den Balkon geschickt. Manchmal tut sie wirk- lich das was sie sagt, aber meistens liegt sie nur so wie früher auf dem Kanapee und rührt sich nicht. Früher habe ich öfers den Vorhang so ein wenig weggezogen und

Weitere Kostenlose Bücher