Der verschwundene Weihnachtsengel: Ein Weihnachtskrimi in 24 Kapiteln
Kampfplatz in die Kulissen. Rhoderich jagte seinen Feind auf die Tribüne, dann zwischen die Zelte des Lagers, vorbei an den Knechten und Hufschmieden, wo er sich mit markerschüttendem Schrei auf seinen Widersacher stürzen wollte – und im Hafertrog der Pferde landete. Für diese Vorstellung erntete er von allen Seiten wieherndes Gelächter.«
Auch die Geschwister lachen erleichtert auf. »Geschieht ihm recht!«, findet Laura.
»Aber wer ist der unbekannte Ritter?«, will Jakob wissen.
»Das wollten auch die Leute auf dem Turnier wissen«, erklärt Frau Knukel. »Den Rest des Tages war der Unbekannte Gesprächsstoff unter allen Rittern und vor allen Dingen den Damen. Aber er war wie vom Erdboden verschwunden.
Allein Dorothea schien sich für die Gespräche und Munkeleien nicht zu interessieren. Sie saß beim abendlichen Bankett abseits, die Augen gesenkt, das Haar von einem Seidenschleier vollständig bedeckt. Da näherte sich Edmund seiner Angebeteten, um sie zum Tanz zu bitten. Mit errötenden Wangen nahm Dorothea Edmunds Hand und ließ sich zur Tanzfläche in die Mitte des Saals führen. Ohne den Blick voneinander zu wenden, umtanzten sich die beiden zum Klang einer Harfe. Alle Anwesenden konnten sehen, wie die Funken der Liebe zwischen ihnen hin und her sprangen. Fast unmerklich änderte sich der Rhythmus der Musik. Die Musiker spielten nun ein schnelleres Lied, das immer wilder wurde. Von allen Seiten stürmten Tänzer herbei, die hüpften, sich drehten und sprangen.
Auch Edmund und Dorothea tanzten ausgelassen umeinander herum. Doch im Gewühl der Feiernden verrutschte Dorotheas Schleier, der ihr als Kopfbedeckung diente. Sie entwand sich Edmund und stürmte aus dem großen Saal, um zu ihren Gemächern zu eilen. Doch da erfasste ein Windstoß das lose Tuch und wehte es davon. Jeder, der zwei Augen im Kopf hatte, konnte sehen: Ihr einst wunderschönes, langes Haar war fort. Denn als sie von Rossaus Drohungen gehört hatte, war sie in eine ausrangierte Rüstung geschlüpft, um Edmund beistehen zu können. Damit ihr leuchtendes, langes Haar, das nicht unter den engen Helm passte, sie nicht verriet, hatte sie den Zopf kurzerhand abgeschnitten.«
»Ich wusste es!«, ruft Laura befriedigt. »Ich hab es die ganze Zeit gewusst!«
»Nichts hast du gewusst!«, beschwert sich Jakob. Denn er selbst war nicht darauf gekommen, dass Dorothea Freifrau von Holdenstein der unbekannte Ritter gewesen sein könnte.
»Alle haben gestaunt«, beruhigt Frau Knukel Jakob. »Es war nämlich ein wohl gehütetes Geheimnis, dass Dorothea nicht nur ein gut erzogenes Fräulein, sondern auch eine ordentliche Schwertkämpferin war. Das war damals nicht gerade üblich unter Frauen«, erklärt Frau Knukel und fährt fort: »Aber wie dem auch sei. Nicht nur Edmund erkannte Dorothea als seine Retterin. Auch Ritter Rossau machte sich seinen Reim. Er schwor grausame Rache.«
Laura stößt einen Seufzer hervor. »Das hätte man sich ja denken können«, bemerkt sie.
Auch Frau Knukel seufzt und fährt dann fort: »Edmund und Dorothea fühlten, dass sie füreinander bestimmt waren. Drei Monate später, am 4. Dezember, gaben sie sich auf der Rhodenbergburg das Jawort. Auf die verschneite Burg zogen Romantik, Liebe und Harmonie. Jeden Abend versammelten sich die Bewohner in der Halle vor dem riesigen Kamin. Es wurde erzählt, gesungen und getanzt. Alle waren voller Vorfreude auf das heilige Weihnachtsfest. An diesen langen, harmonischen Winterabenden nun schnitzte Ritter Rhodenberg aus einem stumpfen Stück Holz unseren Weihnachtsengel, der das liebliche Antlitz seiner Frau trug.
Da Weihnachten nahte, eine Zeit, in der nie Krieg geführt wurde, ahnte niemand, dass Rossau bereits ein Heer im Norden des Landes gegen Edmund zusammengezogen hatte. Der folgende Angriff kam völlig überraschend.
Am Mittag des vierten Advents hörte Edmund die Kirchenglocken der Stadt Alarm schlagen. Sogleich erschien ein Wächter, der Edmund die schlimme Nachricht brachte, dass soeben Ritter Rhoderich von Rossau mit seinen Männern die Stadt überfallen hatte. Er sei dabei, alle männlichen Bewohner in Ketten zu legen, um sie zu verschleppen. Die Stadt selbst wollte er in Brand setzen.
Sofort rief Edmund seine Leute zusammen, ließ sich seine Rüstung und sein Schwert bringen, sprang auf sein Pferd und sprengte im Galopp den Berg hinab Richtung Stadt.«
Frau Knukel unterbricht an dieser Stelle ihre Erzählung und schaut auf die Uhr. »Kinder, für heute
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