Der versunkene Wald
einer ganz neuen Ehrfurcht das Bruchstück der Wurzel.
Es hatte große Ähnlichkeit mit den Holzresten, die von den Bauern in den Mooren bei Dol ausgegraben werden. Sicher waren sie von gleichem Ursprung. Der Wald von Quokelunde hatte sich über das ganze Gebiet von Saint-Servan bis zu den Chausey-Inseln ausgebreitet. Der Einbruch des Meeres, das den Boden unterhöhlte, brachte die Bäume zum Einstürzen, und die Fluten hatten sie weggetragen. Einige, deren Wurzeln tief im Boden steckten, konnten widerstehen und in mehr oder weniger geneigter Stellung ihren Platz behaupten; im Laufe der Jahrhunderte wurden sie mehr und mehr vom Schlamm überzogen. Als das Luch von Dol dem Meere wieder abgewonnen war, brachten die Bauern bei der Feldarbeit solche Stämme ans Licht, deren Holz eine besondere Festigkeit hatte.
„Ich hätte nie für möglich gehalten, daß wir so etwas entdecken könnten!“ sagte Raymond. „Aber was mag denn eigentlich hier über uns sein?“
„Das Meer“, antwortete Pierre. „Wir befinden uns bestimmt nicht mehr unter dem Mont Saint-Michel, aber ich glaube nicht, daß wir schon die Küste erreicht haben.“
„Wenn das stimmt“, sagte Raymond, „dann kann ich mir eins nicht erklären: Du behauptest, daß dieser Gang in der Römerzeit angelegt worden ist …“
„In der Römerzeit oder sogar noch früher. Die Münze mit dem Victorinus und der Meilenstein — da kann es gar keinen Zweifel geben.“
„Gut. Und wann hat der Ärmelkanal den Wald zerstört?“
„Ich sagte ja schon: Man weiß das nicht so genau. Die Sage berichtet von einer Sintflut im Jahre 709, an einem Tag mit Springfluten und Äquinoktialstürmen. Aber die Gelehrten glauben, daß die Überflutung viel früher angefangen hat, vielleicht schon im fünften Jahrhundert.“
„Wenn ich in der Geschichtsstunde nicht geschlafen habe, dann waren die Römer im fünften Jahrhundert gar nicht mehr die Herren von Gallien. Der unterirdische Gang müßte also schon lange dagewesen sein, bevor der Wald überschwemmt wurde. Ist das möglich?“
„Bestimmt.“
„Und wie kommt es, daß das Meer nicht überall eingedrungen ist und den Gang zerstört hat? Die Decke kann nicht allzu massiv sein, wenn sogar die Wurzeln einer Eiche sich hindurchgraben konnten.“
„Sie ist dichter, als du denkst. Der Gang liegt in sehr großer Tiefe. Vergiß nicht, wie weit wir gestern bei unserer Schlittenfahrt heruntergerutscht sind. Als der Gang schon gebaut war, hat es — wahrscheinlich noch vor dem Einbruch des Meeres — einmal eine Erschütterung gegeben, vielleicht durch ein kleines Erdbeben. Die sind auch heute noch in diesem Teil der Normandie nicht selten.“
„Bravo, Pierre!“ neckte Suzanne. „Aus dir wird doch noch mal ein Professor. Sogar hier unten bringst du es fertig, eine Vorlesung zu halten!“
„Wenn ihr euch über mich lustig macht“, sagte Pierre gekränkt, „kann ich ja still sein. Dann werdet ihr niemals erfahren, wie die Wurzeln dieser Eiche bis in den Gang heruntergekommen sind.“
„Wenn deine Geschichte mit dem Erdbeben wahr ist, dann ist das nicht schwer zu erraten“, meinte Suzanne. „Ein Stück von der Erdoberfläche ist in den Gang gestürzt und hat den Baum mitgerissen. Und als das Meer kam, war der Spalt schon wieder zugesackt.“
„Das ist alles ganz einleuchtend“, gab Raymond zu. „Aber wir haben keinen Beweis, daß es wirklich so gewesen ist.“
„Oh doch, den Meilenstein!“ rief Pierre und vergaß, daß er gedroht hatte, nichts mehr sagen zu wollen.
„Wieso?“
„Die Römer hatten ebensowenig wie wir die Angewohnheit, unterirdische Gänge mit Meilensteinen auszustatten. Der Stein hat am Rande einer Straße gestanden. Und genau dort wuchs auch der Eichbaum. Dann geschah der Einsturz. Der Meilenstein war schwerer, er ist schneller und tiefer hinuntergerutscht als der Baum.“
„Und das Geldstück?“
„Das Geldstück hat auch da gelegen. Vielleicht ist es einer gallischen Hausfrau aus der Tasche gefallen, als sie zum Markt ging. Natürlich kann es auch später einmal ein Mann verloren haben, der den Gang benutzte. Das werden wir nie erfahren. Aber was den Meilenstein anbelangt, da können wir ganz sicher sein: Er ist mit dem Baum zusammen in die Tiefe gestürzt.“
Ein Augenblick des Schweigens folgte. Die beiden Feuer knisterten sacht und verbreiteten eine milde Wärme. Das halb versteinerte Holz verzehrte sich so langsam wie Kohle.
Dennoch mußte der Vorrat erneuert werden. Diesmal
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