Der verwaiste Thron 02 - Verrat
handeln.
»Ich will mir die blöde Karte nicht mehr ansehen«, sagte Sommerwind nach einem Moment. »Komm, wir gehen am Strand entlang. Vielleicht finden wir ja ein paar Möweneier.«
»Ich wette, ich finde mehr als du.«
»Träum weiter.« Sommerwind lief los. Selbst in ihrer Menschengestalt bewegte sie sich schneller und geschmeidiger als er. Doch Gerit ließ sich auch absichtlich zurückfallen. Er folgte ihr mit seinen Blicken. Sie lief zwischen den dornigen Sträuchern und Büschen am Ufer entlang, zog sie auseinander und suchte nach Nestern, so als hätte sie die Auseinandersetzung mit ihm bereits vergessen. Auch das war etwas, was Gerit bei den Nachtschatten aus dem Norden aufgefallen war: Wenn sie etwas taten, konzentrierten sie sich vollständig darauf. Selbst die, die wie Sommerwind auch menschliches Blut in sich hatten, verhielten sich so. Vielleicht, so dachte er, während er Sommerwind zusah, zwang der Norden seine Bewohner dazu, allem, was sie taten, ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen. Gerit konnte sich kaum vorstellen, dass jemand im ewigen Eis leben konnte. Selbst die Karte, die er in seiner Hosentasche spürte, endete an Somerstorms nördlicher Grenze.
»Gerit.«
Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte Sommerwind betrachtet, ohne sie wirklich zu sehen. Er bemerkte, dass sie zwei Möweneier in der Armbeuge trug und hinter einigen hohen Sträuchern hockte. »Gerit«, sagte sie erneut. »Komm her.«
Mit dem freien Arm winkte sie ihn heran, bedeutete ihm gleichzeitig, sich zu ducken. Er tat, was sie wollte, ging sogar auf Hände und Knie, als er die Sträucher erreichte.
»Was ist los?«, flüsterte er.
Sommerwind antwortete nicht, zeigte nur durch die Blätter und Dornen zum Fluss. »Ich glaube, sie streiten«, sagte sie leise.
Die beiden Nachtschatten, auf die sie zeigte, standen weniger als einen Steinwurf entfernt zwischen Algen und Treibholz am Ufer des Flusses. Einer von ihnen hatte seine Tiergestalt angenommen, der andere sah aus wie ein Mensch, und Gerit erkannte sofort, dass er verärgert war. Er kannte Korvellan lange genug. Seine Hand tastete beinahe unwillkürlich nach der Narbe auf seiner Wange. Ja, er kannte ihn.
»… keine Disziplin«, sagte Korvellan. »Wir haben fast fünfzig Soldaten auf dem Weg hierher verloren.«
»Es sind keine Soldaten, es sind Krieger.« Schwarzklaue war mehr als einen Kopf größer als Korvellan, trotzdem schien er ihn nicht zu überragen. »Sie ziehen mit uns, weil sie es so wollen.«
»Und irgendwann wollen sie es nicht mehr?« Korvellan schüttelte missbilligend den Kopf. »Wie sollen wir siegen, wenn wir nicht sicher sein können, dass die Armee, die heute mit uns marschiert, morgen noch da ist?«
»Siegen?« Schwarzklaue knurrte so tief, dass Gerit das Geräusch in seinem Bauch spürte. »Hast du überhaupt den Mumm dazu?«
»Was soll das heißen?«
Sommerwind legte Gerit die Hand auf den Arm. »Komm, wir gehen«, flüsterte sie. »Das geht uns nichts an.«
»Du kannst gehen. Ich will das hören.«
Ihre Hand rutschte von seinem Arm, aber sie stand nicht auf. Am Ufer begann Schwarzklaue auf und ab zu gehen. Muskeln zeichneten sich bei jeder Bewegung unter seinem Fell ab.
»Wir marschieren und verhandeln und marschieren!«, brüllte er plötzlich. Einige Vögel flatterten erschrocken aus den Sträuchern auf. Korvellan trat einen Schritt zurück, Gerit wusste nicht, ob aus Überraschung oder Furcht. »Du führst uns zu Städten, vor deren Toren die Bäume stehen, an denen sie uns gehängt haben. Wir sollten ihre Mauern einreißen und ihre Häuser niederbrennen, bis nichts mehr an sie erinnert, aber was tust du?« Er hob die Arme. Die Krallen an seinen Händen krümmten sich, als wollten sie etwas zerreißen. »Du redest mit den Menschen. Du beruhigst sie. Du schenkst ihnen Gold, damit sie Saatgut kaufen können. Was für ein General bist du?«
»Einer, der dir den Rücken freihält.« Korvellan fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er wirkte auf einmal müde. »Gehen die Krieger deshalb? Glauben sie, ich wäre zu feige für den Kampf?«
Seine Ruhe schien sich auf Schwarzklaue zu übertragen. Er ließ die Arme sinken. »Nein. Sie glauben, du bist zu sehr Mensch. Ich sage ihnen, dass das nicht stimmt, aber wenn sie Fragen stellen, habe ich keine Antworten.«
»Was für Fragen?«
Schwarzklaue stieß den Atem aus. Gerit wusste, dass er lange Unterhaltungen nicht mochte. »Warum wir die verschonen, die uns hassen.«
»Weil
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