Der verwaiste Thron 02 - Verrat
Königs aufzuhalten.«
»Dann werden sie jetzt vielleicht die Nachtschatten aufhalten.«
»Nicht, wenn Korvellan sie anführt. Er wird nicht so dumm sein, Charbont oder Westfall vom Wasser aus anzugreifen.« Erys winkte einen Matrosen heran. Es war Nungo'was.
»Was möchtet ihr?« Er richtete die Frage an Erys, aber sein Blick glitt immer wieder zu Ana. Sie spürte, dass er die Hoffnung auf Freiheit noch nicht aufgegeben hatte. Sie spiegelte sich in seiner Freundlichkeit wider. »Wann werden wir in Charbont ankommen?« Nungo'was sah zum Ufer und dachte einen Moment nach. »Am Nachmittag, vielleicht schon früher. Ich kenn ein paar gute Garküchen unten am Hafen, wo man Muscheln essen kann, ohne krank zu werden.«
Ana erwiderte seinen Blick nicht. Erys schwieg. Nungo'was blieb einen Moment stehen, wartete auf eine Entgegnung, die nicht kam, dann kratzte er sich am Bauch und ging.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte Erys, als er außer Hörweite war. »Du verhältst dich sehr erwachsen, wie eine Fürstin.«
Das Kompliment klang wie eines, das Anas Mutter ihr gemacht hätte. Sie versuchte Erys nicht merken zu lassen, dass sie es als Schmeichelei durchschaute. Stattdessen beobachtete sie Merie, die mit übereinandergeschlagenen Beinen vor den Käfigen saß. Florenia flocht ihre Haare zu Zöpfen. Merie wirkte unbeschwert.
Sie ist so alt, wie Gerit war, als die Nachtschatten kamen , dachte Ana. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal an ihren Bruder gedacht hatte. Der Stich des schlechten Gewissens trieb ihr Tränen in die Augen. Sie blinzelte sie weg.
»Wann treffen wir Ogivers?«, fragte sie.
Erys zuckte zusammen, hatte wohl ihren eigenen Gedanken nachgehangen. »Noch heute Abend, hoffe ich«, sagte sie. »Ich werde nach unserer Ankunft sofort jemanden zu ihm schicken.«
Schneller, als sie erwartet hatte, näherten sie sich dem Ufer. Schon bald sah Ana die Mauern, von denen die Türme umgeben waren, die Häuser dahinter und die Schiffe im Hafen. Überall glitzerte und funkelte es. Eine Weile glaubte Ana beinahe, die Straßen wären mit Edelsteinen gepflastert, doch dann, als das Fährschiff noch näher herangekommen war, erkannte sie, dass es die Rüstungen von Soldaten waren, in denen sich das Sonnenlicht brach.
Sie waren überall – auf den Mauern, in den Straßen, vor den Toren und an den Händlerständen. In voller Kampfrüstung, manche auf Kriegspferden sitzend, patrouillierten sie durch die Stadt. Sie waren mit Schwertern, Armbrüsten und Speeren bewaffnet. Schwarze Hunde, groß wie Fohlen, trabten neben ihnen her.
»Erys«, sagte Ana leise.
Neben ihr öffnete Erys die Augen. Sie hatte sich auf den Boden gesetzt und den Rücken gegen die Reling gelehnt, aber nun stand sie auf und warf einen Blick zum Ufer.
»Sieht so aus, als wüsste man in Charbont bereits, was in Srzanizar geschehen ist«, sagte sie nach einem Moment. »Viele der kleinen Boote waren schneller als wir.«
»Und warum liegen nur so wenige Boote im Hafen?«, fragte Ana.
Erys antwortete nicht, aber ihre Finger spielten nervös mit der Schlaufe ihres Gürtels.
Nach und nach traten die Matrosen und die anderen Passagiere an die Reling. Ein paar winkten den Soldaten zu.
»Wenn wir die in Srzanizar gehabt hätten«, sagte ein älterer Mann, »wäre das alles anders ausgegangen.«
»Sie sehen nicht sehr freundlich aus.« Die Frau, die neben ihm an der Reling lehnte, sah ihm ähnlich wie eine Schwester.
Er winkte ab. »Es sind Soldaten. Die sollen nicht freundlich aussehen. Wir haben nichts getan und nichts zu verbergen. Mach dir keine Sorgen.«
Über ihnen rafften die Matrosen die Segel. Das Schiff wurde langsamer. Ruderer sorgten dafür, dass es sich langsam drehte, als es sich dem langen Bootssteg näherte. Ein Soldat stand an seinem Ende, keinen Steinwurf entfernt. Er stützte sich auf einen Speer. Das Visier seines Helms war geschlossen.
»Kommt ihr aus Srzanizar?«, rief er.
»Ja«, antwortete der ältere Mann, bevor ihn jemand aufhalten konnte. »Wir sind geflohen, als die Nachtschatten kamen.«
»Dann flieht weiter. Ihr könnt hier nicht bleiben.«
»Was?«
Alle begannen durcheinanderzureden und zu schreien. Der Mann, der kurz zuvor noch den Soldaten zugewunken hatte, schüttelte seine Faust und schrie: »Warum?«
Ana hatte nicht erwartet, dass der Soldat antworten würde, aber er tat es. »Ihr könntet alle Nachtschatten sein. Wenn wir euch reinlassen, können wir dem Feind gleich die Tore
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