Der verwaiste Thron 02 - Verrat
öffnen und die Türme abreißen. Es tut mir leid, aber so ist es.«
Das Schiff näherte sich weiter, kam so dicht an den Steg heran, dass Ana den Soldaten deutlich sehen konnte. Er trug einen großen Schild auf dem Rücken.
»Kommt nicht näher, oder ihr werdet beschossen!«
Ana sah an ihm vorbei zur Hafenmauer. Mehr als zwei Dutzend Bogenschützen standen darauf. Sie hielten die Bögen gesenkt, aber Ana bemerkte die Pfeile, die auf den Sehnen lagen. Erys berührte ihren Arm. Ohne ein Wort zog sie Ana auf ihr Lager unter dem Rettungsboot. Sie sah, dass zwei Matrosen unter Deck verschwanden.
»Wir haben nichts getan!«, rief der Mann. Er blieb an der Reling stehen, während die anderen, unter ihnen auch seine Schwester, zurückwichen.
»Das wissen wir nicht.« Der Soldat ging plötzlich in die Hocke und zog den Schild über den Kopf. Im gleichen Moment richteten die Schützen ihre Bögen in den Himmel. Ana presste sich neben Erys in den Spalt zwischen Reling und Rettungsboot und zog die Beine an. Einen Lidschlag später prasselten Pfeile wie Hagel auf die Fähre nieder.
Menschen schrien, Pferde wieherten, Ruder klatschten ins Wasser. Der Steuermann brüllte Befehle. Langsam drehte sich das große Schiff. Durch den Spalt über ihrem Kopf sah Ana den schaukelnden Himmel. Sie sah zur Seite. Zwei Pfeile hatten sich in das Deck vor ihren Füßen gebohrt. Der ältere Mann hing mit der Brust über der Reling. Pfeile spickten seine Schultern und seinen Kopf. Die Frau, die neben ihm gestanden hatte, schrie. Zwei Pfeile steckten in ihrem Arm.
Ana sah sich nach Merie um. Sie entdeckte das Mädchen zwischen einigen Kisten. Es schien unverletzt, starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die Toten und Verletzten, die an Deck lagen.
Die Fähre drehte sich weiter. Ana verlor das Ufer aus den Augen, als der Bug wieder auf den Fluss hinauszeigte.
»Kommt nicht zurück!«, hörte sie den Soldaten rufen.
»Warte hier!« Erys stand auf. Geduckt lief sie über das Deck und begann mit dem Steuermann zu reden. Er hörte ihr zu, gestikulierte und schüttelte den Kopf. Erys legte die Hand auf den Knauf ihres Schwertes. Der Mann nickte.
Ana verließ die Deckung des Beiboots. »Hol uns hier raus!«, schrie einer der Soldaten, ein rotgesichtiger, am ganzen Körper tätowierter Mann, dessen Schultern sich pellten. Ein Toter lag neben ihm. Im anderen Käfig standen die Sklaven an den Gitterstäben. Sie wirkten ruhiger als die Soldaten. Die Pfeile hatten sie anscheinend verschont.
Passagiere und Matrosen hasteten an Ana vorbei unter Deck. Sie ging Erys entgegen, die missbilligend den Mund verzog. Der Gardist stand mit regungslosem Gesicht neben ihr.
»Wir sind noch in Reichweite der Pfeile. Bleib in Deckung.«
Ana ging nicht darauf ein. »Was hast du dem Steuermann gesagt?«
»Dass er vor Anker gehen soll, sobald wir weit genug weg sind.« Erys sah zum Ufer. »Wir müssen zu Ogivers. Nur er ist mächtig genug, um uns an Land zu bringen.«
»Wie kommen wir zu ihm?«
Erys hob die Schultern. Sie wirkte auf einmal hilflos. »Ich weiß es nicht.«
Kapitel 25
Die Festungen und Schlösser Westfalls zählen zu den schönsten der vier Königreiche. Seit den Tagen der Vergangenen hat kein Katapult ihre Mauern gesprengt und keine Magie ihre Steine zum Einsturz gebracht. Gelangweilt gleitet das Auge des Reisenden über ihre Vollkommenheit.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1
Im ersten Licht des neuen Tages ließen sie die Festung hinter sich. Es war ein ruhiger Morgen. Die Straßen waren leer. Nur einige Männer hockten noch am Straßenrand und in den Hauseingängen, zu betrunken, um zu arbeiten, zu wach, um zu schlafen. Gelegentlich rief jemand mit rauer Stimme: »Lang lebe das Fürstenpaar!«, doch niemand nahm den Ruf auf; er verhallte in der Stille, zwischen leeren Fässern und zertretenen Blumen.
Craymorus sah durch einen Schlitz im dunklen Vorhang nach draußen. Leutnant Garrsy hatte die Fenster der Kutsche verhängen lassen, damit niemand sehen konnte, wer darin saß. Die Fürstin wünscht keine Gerüchte , hatte er gesagt.
Und Gerüchte würde es geben, wenn sich herumsprach, dass der Fürst nur wenige Stunden nach seiner Hochzeit die Stadt verließ. Deshalb, so glaubte Craymorus, hatte Syrah sich so vehement gegen seine Abreise ausgesprochen. Die Furcht, das Gesicht zu verlieren, schien sogar noch ihre Gier nach Macht zu übertreffen. Craymorus merkte sich diese
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