Der verwaiste Thron 02 - Verrat
aufhören.
Beinahe hätte er das Grab nicht bemerkt. Es lag an einer geschützten Stelle unter einem Felsvorsprung, ein Steinhaufen mit einem Ast, von dem ein Stück Stoff im Wind wehte. Gerit sah die Bewegung aus den Augenwinkeln und hielt an. Es war ein frisches Grab. Noch hatte sich kein Moos auf den Steinen gebildet, kein Gras wuchs zwischen ihnen hervor.
Gerit sprang vom Pferd. Eine dünne Eisschicht bedeckte den Weg. Er rutschte darauf aus, fing sich und kniete neben dem Grab nieder. Mit zitternden roten Händen begann er die Steine abzutragen. Jede Bewegung schmerzte. Die Kanten der Steine erschienen ihm scharf wie Klingen.
Verwesungsgestank schlug ihm entgegen, dann legte er das Gesicht des Toten frei. Es war ein alter Mann, bärtig und mit eingefallenen Wangen. Im Mondlicht wirkte sein Gesicht beinahe schwarz. Er war erfroren, die Haut vom Eis verbrannt.
Gerit warf die Steine beiseite. Der Tote trug Kleidung. Er legte den Oberkörper frei, dann die Beine. Die Hose war nicht besser als seine eigene, aber er zog sie ihm trotzdem aus, schüttelte Maden und Würmer heraus und schlüpfte hinein. Sie war viel zu groß. Er riss Stoff heraus und wickelte sich ihn wie Bandagen um Hände und Füße. Dann drehte er den Toten auf die Seite. Der Wollumhang, den er trug, wirkte schwer und trocken. Gerit zog ihn aus dem Grab, wickelte sich hinein und setzte die Kapuze auf. Der Gestank ließ ihn würgen. Er spuckte Galle, dann schwang er sich zurück auf das Pferd.
Während sich der Hengst vorwärtstastete, drehte sich Gerit noch einmal um. Der nackte Tote lag auf der Seite, einen Arm unter dem Kopf, so als würde er ihn betrachten. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht entspannt und friedlich. Gerit bedankte sich nicht bei ihm, noch nicht einmal in Gedanken. Er hatte sich genommen, was er brauchte, so wie die Kälte sich von dem alten Mann genommen hatte, was sie brauchte.
»Ich bin der Norden«, sagte er, und zum ersten Mal klangen die Worte nicht verzweifelt, sondern wahr.
»Hallo?« Gerit zog sich die Kapuze vom Kopf und blickte zu den Wehrtürmen der Festung empor. Es regnete. Wasser lief von den Steinen und sammelte sich in Pfützen vor dem geschlossenen Tor. Die Fahnenmasten auf den Türmen waren leer, so wie Korvellan befohlen hatte.
»Hallo?«, rief Gerit erneut. Er hörte das Gackern von Hühnern hinter dem Tor, dann wurden die Riegel zurückgeschoben. Ein Nachtschatten hinkte ihm entgegen. Es war Nebelläufer, der Krieger, dem Schwarzklaue das Kommando über die Festung gegeben hatte. Perres, der Koch, der zu viel redete, hatte Gerit erzählt, dass Nebelläufer bis zu einem Sturz im Eis der schnellste Jäger in Schwarzklaues Stamm gewesen war. Nun wirkte sein Name wie Ironie.
»Was willst du hier?«, fragte Nebelläufer. Sein Blick war stechend.
Gerit sprang von seinem Pferd. »Korvellan schickt mich. Ich soll mich um die Verwaltung kümmern.«
Nebelläufer musste zurückweichen, sonst wäre der Hengst gegen ihn geprallt. Gerit nutzte die Lücke und ging durch das Tor in den Innenhof. Überrascht bemerkte er, dass er größer als Nebelläufer war. Als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, war das noch nicht so gewesen.
»Korvellan sagt das?« Nebelläufer winkte einen anderen Nachtschatten heran, der das Tor hinter ihm schloss.
»So ist es.«
»Warum?«
»Er denkt, dass ich hier von größerem Nutzen bin als im Süden.« Gerit sah Nebelläufer nicht an, sondern ging auf die breite Haupttreppe zu. Sein Herz schlug schnell, sein Mund war trocken. Nachtschatten hoben den Kopf, als sie ihn bemerkten. Einige nickten ihm zu, andere zogen mürrisch die Augenbrauen zusammen.
Er hörte Nebelläufers unregelmäßige Schritte hinter sich. »Sobald ich ein Bad genommen habe«, sagte Gerit, ohne sich umzudrehen, »möchte ich die Warenaufstellungen seit meiner Abreise sehen und die Aufzeichnungen über die Erträge der Mine. Du hast doch Buch darüber geführt, oder?«
Da erst drehte er sich um. Er wusste, dass Nebelläufer wie fast alle Krieger des Nordens nicht lesen konnte. Der Nachtschatten schwieg und kaute auf seiner Lippe. Gerit glaubte ein Knurren tief in seiner Brust zu hören. Er lächelte. »Und genau deshalb hat Korvellan mich geschickt.«
Schneller, als Nebelläufer ihm folgen konnte, lief er die Treppe hoch und ins Innere des Haupthauses. Sein Herzschlag wurde langsamer. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Säule.
Er glaubt mir ,
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