Der verwaiste Thron 02 - Verrat
die Stadt hinein. Als Kind hatte er sich oft gefragt, wo er wohl herkam.
»Seht ihr, mein Fürst?« Garrsy stieg von seinem Pferd. »Keine Soldaten.«
Er hatte recht. Die Baracken und Ställe standen leer. Die Fensterläden waren verschwunden, ebenso wie die meisten Türen. Einige Dächer waren eingebrochen.
Craymorus drehte sich um. Einen Moment lang glaubte er die Stadt zu sehen, majestätisch und elegant zugleich, so wie er sie in Erinnerung hatte. Doch seine Augen sahen etwas anderes.
Die Brücke war noch da, ebenso wie die Wachtürme, auf denen einst mit Bögen und Armbrüsten bewaffnete Soldaten gestanden hatten. Die Katapultstellungen waren verlassen, keine Kohlepfannen und Steinschleudern richteten sich mehr auf die Stadt. Unbedroht und still hing sie über dem Abgrund. Breite, geschwungene Hängebrücken verbanden Holzhäuser miteinander, deren Stelzen zwanzig, dreißig Manneslängen in die Tiefe reichten.
Häuser, Hütten und Verschläge, Tavernen, Geschäfte und Tempel – an heißen Sommertagen, wenn die Luft flimmerte und man die Stelzen nicht mehr sah, hatte Craymorus geglaubt, der nächste Windstoß würde sie in den Himmel tragen. Aber die Stelzen, die sie mit der Erde verankerten, hatten gehalten, so gut, dass sie noch standen, während ein Teil der Stadt in den Abgrund gestürzt war. Craymorus sah die abgerissenen Hängebrücken, die im Nichts endeten, und das zerborstene Holz auf den Felsen. Seine Beine begannen zu pochen. Er wandte sich ab.
Der andere Teil der Stadt – sie hatten sie nie Stadt der Magier genannt, immer nur die Stadt – war noch bewohnt. Einige alte Männer standen auf der Veranda eines Hauses und sahen zum Plateau hinüber.
Es ist viele, viele Jahre her, dass ich meinen Vater das letzte Mal sah , dachte Craymorus. Er war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob er ihn erkennen würde. Und würde sein Vater ihn erkennen?
Er sah an sich herab. Ja, das würde er wohl.
»Was sollen wir jetzt tun, Herr?«, fragte Garrsy.
»Warten.«
Die Soldaten nahmen den Stuhl vom Dach der Kutsche und stellten ihn in den Staub. Craymorus setzte sich nicht. Einer der alten Männer auf der Veranda drehte sich um und verschwand im Haus.
»Wieso haben sie die Stadt auf Stelzen gebaut?«, fragte einer der Milizsoldaten, ein Junge, der höchstens vierzehn war, einen anderen. Er sprach leise, aber der Wind trug seine Worte zu Craymorus herüber.
»Wegen der Magie«, antwortete ihm Tohms charakteristisch raue Stimme. »Die vier Königreiche – das war vor deiner Zeit – bauten die Stadt für ihre Magier. Die holen die Magie aus der Erde, deshalb die Stelzen. Wäre sonst zu gefährlich gewesen. Das waren mal die mächtigsten Menschen der Welt. Zusammen hätten sie selbst Könige besiegen können.«
»Davon habe ich noch nie was gehört.«
»Ist auch längst vorbei. Die Soldaten sind weg, was schade ist. Ein paar hundert waren hier stationiert. Die haben unser Vieh gekauft, unsere Stoffe. Wir haben immer gute Geschäfte mit ihnen gemacht.«
Craymorus hörte nicht weiter zu. Die Wolken hingen tief, erste Regentropfen fielen auf sein Gesicht. Garrsy nahm seinen Umhang ab und reichte ihn Craymorus, doch der ignorierte ihn. Seine Aufmerksamkeit war allein auf den Mann und den Jungen gerichtet, die in diesem Moment die Brücke zum Plateau betraten. Er zuckte zusammen, als er den rechten von beiden besser sehen konnte, und lachte beinahe über sich selbst: Wie hatte er nur glauben können, er würde seinen Vater nicht mehr erkennen?
Milus Ephardus hatte sich kaum verändert. Seine Schritte waren energisch, kraftvoll, sein Rücken durchgedrückt, der Kopf hoch erhoben, so als trage er eine Krone. Sein Haar war grauer geworden und kürzer. Es fiel nicht mehr bis auf seine Schultern wie in Craymorus' Erinnerung, doch der Bart war unverändert dunkel und präzise gestutzt. Er trug eine lange graue Seidenrobe. Sie sah neu aus. Die Magie hatte die Welt vielleicht verlassen, aber das Gold, das die Magier mit ihr verdient hatten, gab es noch immer.
Craymorus betrachtete auch den Jungen, der neben seinem Vater die Brücke verließ. Er war vielleicht zwölf Jahre alt, dunkelhaarig und schlaksig, so als müsse er noch in seinen Körper hineinwachsen. Sein Gesichtsausdruck war wach, seine Blicke musterten die Kutsche und die Menschen, die davor standen, aufmerksam und ein wenig arrogant. Er kam Craymorus bekannt vor.
Garrsy trat vor. »Neigt Euer Haupt vor Craymorus Ephardus, Fürst von Westfall.«
Der
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